Wohin treibt die CDU?
Mathias von Gersdorff
Auf ihrem 23. Bundesparteitag vom 14. bis zum 16. November 2010 in Karlsruhe hat die „Christlich Demokratische Union Deutschlands“ nach einer langen Debatte beschlossen, dass die sog. Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland weiterhin verboten bleiben soll. Die PID ist ein Verfahren zur Untersuchung der um die Gesundheit eines Embryos, der durch die In-Vitro-Fertilisation erzeugt wurde. Das Verfahren wird angewandt, bevor der Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt wird. Das Verbot der PID durch den Bundesparteitag der CDU war eindeutig eine Maßnahme zugunsten des ungeborenen Lebens, also aus christlicher Sicht zu begrüßen ist.
Wenige Wochen danach hat allerdings ein prominenter Bundestagsabgeordneter der CDU, Peter Hintze, ein Gesetzesprojekt der Öffentlichkeit vorgestellt, das eine Liberalisierung der PID forderte. Hintze ist evangelischer Theologe und war einige Jahre Pfarrer. Von 1992 bis 1998 war er Generalsekretär der CDU, also zuständig für die Strategien der Partei, um Wahlen zu gewinnen. Seit 2002 ist er Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP). Seit 1990 ist er Abgeordneter des Bundestages, und in dieser Zeit war er fast immer Parlamentarischer Staatssekretär, hatte also eine hervorgehobene Rolle inne.
Die öffentliche Debatte um die PID wurde in einer Heftigkeit und Intensität geführt, die man in Deutschland seit langem nicht mehr erlebt hatte. Nahezu täglich wurden in den wichtigsten Medien Pro-und Contra-Argumente hervorgebracht. Im Gegensatz zur Abtreibungsdiskussion zwanzig Jahre davor, war es bis zum Ende nicht klar, ob die Befürworter einer Liberalisierung die Mehrheit der Stimmen im Bundestag erhalten würden. Da ein wichtiger Teil der Öffentlichen Meinung für ein Verbot der PID war, gab es also machtpolitische Notwendigkeit für die CDU, eine laxe Haltung in dieser Frage einzunehmen.
Das Gesetzesprojekt Hintzes zur PID war schließlich der liberalste aller, die während der heftig geführten Debatte vorgestellt wurden. 70 Abgeordnete der CDU stimmten für diese Vorlage, und dadurch bekam sie die Mehrheit der Stimmen.
Hätte Hintze nicht vorgeprescht und die Unterstützung weiterer CDUler nicht erhalten, wäre die PID in Deutschland immer noch verboten.
Solche Vorkommnisse prägen seit langem das öffentliche Bild der CDU. Viele Menschen fragen sich, wofür diese Partei noch steht. Sicher, eine Partei muss auch machtpolitisch und pragmatisch vorgehen können. Doch in der Erwartung vieler Menschen sollten gewisse Prinzipien und gewisse Grenzen nicht überschritten werden. Diese Gewissheit ist dahin, nirgendwo so deutlich wie in der Frage nach dem Schutz des Lebens. Aber auch sonst kann keiner genau sagen, für welche Werte die Union noch steht. Ist sie nur auf Macht aus?
Diese neue CDU wird oft mit der Person Angela Merkels festgemacht. Sie wurde im Jahr 2000 zur Bundesvorsitzenden gewählt, obwohl sie nicht christdemokratisch sozialisiert war, wie alle ihre Vorgänger. Im Gegensatz zu Politikern wie Helmut Kohl, Rainer Barzel und fast allen anderen hat sie nicht die Parteikarriere vom Ortsverein bis zur Spitze durchgemacht. In ihrer kühlen und berechnenden Art hat sie sich nie mit der „Seele der Partei“- katholisch im Gemüt und den Mitgliedern ein gemütliches Nest anbietend - anfreunden können. Zur Parteivorsitzenden wurde sie nach der für die CDU katastrophal verlaufenen 1998er Wahl (Beginn der Rot-Grünen Regierung unter der Führung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer) und die CDU-Spendenaffäre 1999/2000. Kaum eine Persönlichkeit wollte damals die Parteiführung übernehmen – Angela Merkel sprang sozusagen in die Bresche. Viele hatten wohl erwartet, dass man sie relativ einfach wieder loswerden würde, sobald sich die Wahlperspektiven besserten. In der Tat trat sie zur Bundestagswahl 2002 nicht an, sondern der damalige Bayerische Ministerpräsident, Edmund Stoiber. Währenddessen baute sie ihre Machtbasis nach dem Vorbild einer technokratisch geführten Organisation aus. Diesen Umbau hat sie nach ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin fortgesetzt. Nicht ohne Polemik: Seit Jahren formieren sich Gruppierungen, die den Stil und die politische Richtung Merkels kritisieren. Stichwort „Sozialdemokratisierung der CDU“.
Die jüngsten Rebellen sind der Berliner Kreis rund um den hessischen CDU-Fraktionsvorsitzenden Christean Wagner und Brandenburgs Ex-Innenminister Jörg Schönbohm (CDU). Immer wieder erscheinen Bücher, die sich über den desolaten ideologischen Zustand der Christdemokraten beschweren, zuletzt „Schluss mit dem Ausverkauf“, an dem unter anderem der angesehene Professor Arnulf Baring mitgewirkt hat. Im Laufe des Jahres haben nicht geringere wie Helmut Kohl und vor allem der ehemalige Ministerpräsident Baden-Württembergs, Erwin Teufel (1991 – 2005), massiv Kritik an der allgemeinen Parteilinie geübt. Der Popularitätsverlust der Union ist permanent Thema in den Medien.
In der Tat haben sich in Merkels Zeit die politischen Koordinaten erheblich verschoben. Insbesondere in den Feldern, die für christlich-motivierte Wähler besonders wichtig sind, etwa das Lebensrecht, wie schon oben angeführt, aber auch die Familienpolitik. Bis zur Abwahl Gerhard Schröders galt nämlich für die CDU, die Familien müssen möglichst finanziell vom Staat unabhängig sein und selber entscheiden, wie sie ihr Leben und die Erziehung der Kinder organisieren, was etwa der katholischen Position entspricht. Merkels erste Familienministerin Ursula von der Leyen (2005 bis November 2009, seitdem Arbeitsministerin) hat die langjährigen christdemokratischen Prinzipien völlig beiseite geschoben, und seitdem tritt die CDU massiv für die „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ und für den flächendeckenden Ausbau der Kleinkinderbetreuung ein – was davor immer als DDR-Politik verfemt wurde. Von der Leyen hat genau die Familienpolitik in die Praxis gesetzt, die ihre beiden Vorgängerinnen, die SPD-Politikerinnen Christine Bergmann (1998 – 2002) und Renate Schmidt (2002 – 2005) einführen wollten, doch mangels Unterstützung nie schaffen konnten. Erst die konservativ aussehende Mutter von sieben Kindern erledigte die Sozialdemokratisierung der Familienverhältnisse. Aber nicht nur das. Von der Leyen war auch eine rabiate Verfechterin der „Gender-Maintreaming-Ideologie“, die alle Unterschiede zwischen Mann und Frau für rein kultureller und zufälliger Natur hält und eine totale Gleichstellung von Mann und Frau in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft anstrebt – alles politische Forderungen ursprünglich aus dem Lager der Linken.
Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass die Entkernung der CDU nicht mit Angela Merkel, sondern viel früher begonnen hat. Viele hegten beispielsweise große Erwartungen, dass die Regierung Helmut Kohl etwas gegen die horrend hohen Abtreibungszahlen unternehmen würde, zumal er eine „geistig-moralische Wende“ versprach. Doch nichts geschah. Die Gesetzgebung von 1976 wurde nicht angetastet, und später, nach der Wiedervereinigung, begünstigten wichtige Teile der Union sogar eine weitere Liberalisierung, die bis heute gültig ist. Aber man kann noch weiter zurück in die Geschichte gehen. Folgendes wird oft vergessen: Die Christdemokratie war in ihrem Ursprung kein konservatives Konzept, sondern ganz im Gegenteil, der Versuch, liberale und sogar sozialistische Ideen mit der katholischen Soziallehre zu vereinen. Dieser Hang zur Konsensbildung war schon immer Ursache für eine gewisse Profillosigkeit, die sich natürlich im Laufe der Jahrzehnte verschlimmert hat. Die Christdemokratie war allerdings sehr effizient in der Einbindung konservativer Menschen, was die Bildung einer wahrhaftig konservativen politischen Kraft verhindert hat.
Merkels Linie hat sich nicht positiv auf die Wahlergebnisse ausgewirkt. Bis 1994 bekam die CDU immer weit über 30% (zusammen mit der CSU weit über 40%). Seit der desaströsen Wahl von 1998 (28,40%) hat sie sich nicht mehr erholt, 2009 bekam sie nur noch 27,27% (mit CSU zusammen 33,80%). So schlecht war sie nur 1949 unter völlig anderen politischen Bedingungen.
Insbesondere die christlich-motivierten Wähler kehren den Christdemokraten den Rücken. Seit Jahren bleiben vor allem die Katholiken, aber auch die konservativen Evangelikalen zunehmend zu Hause. Die sog. Stammwählerschaft schmilzt, wodurch die Kampagnenfähigkeit und die Arbeit vor Ort immer schwieriger werden. Diese enttäuschten Wähler und Parteimitglieder wieder für die Christdemokratie zu gewinnen, versuchen Initiativen wie der Berliner Kreis. Solche Gruppierungen glauben nicht mehr an die alte Strategie, dass die konservativen Wähler schlichtweg keine andere Alternative zur CDU hätten. Das stimmt in dieser Form nicht mehr. Die sinkende Wahlbeteiligung bzw. die Wahlanalysen zeigen, dass die konservativen Menschen am Wahltag zu Hause bleiben (Wahlbeteiligung Bundestagswahl 1998: 82,2; Bundestagswahl 2009: 70,2), gleichwohl sie sich im vorpolitischen Raum in Form von Bürgerbewegungen und sonstigen Formen der außerparlamentarischen Auseinandersetzung beteiligen. Sie bilden den Resonanzkasten der Kritik am modernen Stil der CDU. Die CDU-Führung scheint keine Strategie entwickeln zu wollen, um diese Wählerschichten wieder für sich zu gewinnen.
Die CDU entwickelt sich im Grunde genommen zu einer modernen technokratischen Partei angelsächsischen Stils, die nicht mehr anhand eines Parteiprogrammes zu überzeugen versucht, sondern sich eher als eine Plattform diverser Strömungen der Öffentlichkeit präsentiert. Der Haken dabei sind die proportionalen Wahlen in Deutschland, durch die sich die einzelnen Kandidaten schwerer profilieren können, wie das etwa in den Vereinigten Staaten mit dem Mehrheitswahlrecht geschieht. Obwohl dort die Republikanische Partei viele eher liberale Politiker hat, werden auch die konservativen wahrgenommen. In der CDU gibt es immer noch viele konservative Politiker und Abgeordnete, die beispielsweise in Fragen des Lebensrechts sehr solide sind, doch in der Öffentlichkeit schaffen sie es ungenügend, als Einzelpersonen hervorzutreten, zu sehr wird die Partei als ein einheitliches Ganzes gesehen.
Noch scheint aber die Zustimmung in der Bevölkerung für den Machterhalt zu reichen. Beim letzten Bundesparteitag in Leipzig vom 13. bis zum 15. November 2011 gab es im Gegensatz zum Vorfeld des Bundesparteitages 2010 in Karlsruhe keinen Widerstand gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre allgemeine Linie. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ betitelte am 16. November 2011 ihren Hauptkommentar über die CDU-Veranstaltung sarkastisch mit „Die befriedete Partei“ und kommentierte: „Angela Merkel kann mit dem Verlauf dieses Parteitages in Leipzig zufrieden sein. Für die CDU katastrophale Wahlergebnisse hatte es in diesem Jahr gegeben: Verlust der Regierungsmacht in Hamburg und Baden-Württemberg. In Leipzig wurden sie nicht debattiert. Kursänderungen hatte es gegeben: Abschaffung der Wehrpflicht, Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Sie führten nicht zu Grundsatzdebatten über ihren Politikstil, über das Verhältnis zwischen Parteispitze und CDU-Untergliederungen.“
Bis zu den nächsten Wahlen fehlen noch über zwei Jahre, was in der Politik eine Ewigkeit ist, vor allem in unserer unstabilen Zeit. Größter Unsicherheitsfaktor ist der Niedergang der liberalen Partei, der FDP, Koalitionspartner der Union. Für Angela Merkel ist das ideologisch kein Problem, da sie ohnehin lieber mit der SPD koalieren würde. Doch das ginge nur dann, wenn eine rot-grüne Regierung rechnerisch nicht zustande kommen kann. Doch aufgrund der Gefahr, den liberalen Koalitionspartner zu verlieren, ist die Neigung, „grüne“ Positionen einzunehmen, die gegenwärtig als populär angesehen werden, sehr stark geworden. Selbstverständlich führt das zu einem weiteren Verlust an christlichem Profil.
Ob und wie die Christdemokratie überleben wird, ist heute kaum vorherzusehen. Wer die deutsche Geschichte kennt, weiß aber, dass hier christliche Werte und Prinzipien immer eine bedeutende Rolle im politischen Leben gespielt haben, selbst in den größten Krisen und Umbruchzeiten. Es ist kaum vorstellbar, dass das Christentum in Zukunft keine oder nur eine geringe Rolle spielen wird, zu tief liegen hier seine Wurzeln. Ob aber die CDU den Erwartungen der Menschen entsprechen wird, ist eine andere Frage.
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