Wie Kinder in Grundschulen das Schreiben verlernen
In Deutschland lernen heute viele Grundschüler mit Methoden und Lehrgängen schreiben. Weiter dürfen Grundschüler fast überall drei Jahre lang so schreiben wie sie wollen - ohne korrigiert zu werden. Bei vielen Lehrern ist der Ansatz umstritten und Experten warnen vor gravierenden Folgen.
Ein Mädchen einer Berliner Grundschule hat sich für ein Schleichdiktat entschieden. Das Schleichen ist durchaus wörtlich zu verstehen. An der Eingangstür hängen Sätze, die sie lesen, sich auf dem Rückweg zu ihrem Platz merken und in ihr Heft schreiben soll. Am Ende soll sie die Sätze selbst korrigieren, denn die meisten Schüler finden viele Rechtschreibfehler in ihrer „Abschrift“. „Wenn sie Geschichten schreiben, dürfen sie auch phonetisch schreiben. Da spielt die Rechtschreibung keine Rolle“, erläutert die Lehrerin.
Auch Valerie darf schreiben was sie will. Wörter Sätze, kleine Geschichten – alles kritzelt sie so hin, wie sie es hört und spricht. Ihre Texte willen von Fehlern, doch die Lehrerin korrigiert sie nicht. Valerie geht in die zweite Klasse einer Wuppertaler Grundschule, aber Rechtschreibregeln hat sie bisher nicht gelernt.
Auch Eltern sollen die Schreibfehler ihrer Kinder nicht verbessern, doch im vierten Schuljahr hagelt es dann plötzlich schlechte Noten im Deutschunterricht, weil nun die korrekte Orthographie zu bewerten ist. Diktate werden schon lange nicht mehr geschrieben. Die Schüler wachsen mit dem Gefühl auf, dass Rechtschreibung nicht so wichtig sei - und mit dem Zwiespalt, dass sie richtig geschriebene Worte in Büchern lesen und falsch geschriebene an der Tafel oder in Schulheften.
Das böse Erwachen kommt für die Schüler dann beim Sprung aufs Gymnasium. Es werden plötzlich Anforderungen gestellt, denen die Kinder absolut nicht gewachsen sind. Nachmittags müssen sie nachholen, was man ihnen in der Grundschule nicht beigebracht hat: Eine fehlerfreie Rechtschreibung:
Die meisten Kinder haben nach einer Methode gelernt, die inzwischen an Grundschulen weit verbreitet ist: “Lesen durch Schreiben“, entwickelt vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Er ging davon aus, dass Kinder sich die Schriftsprache selbst erarbeiten könnten. Dafür sollen sie zunächst so schreiben, wie sie sprechen. Ein Unding! Zahllose Fehlschreibungen - die von Lehrern über ein oder sogar drei Jahre hinweg nicht oder kaum korrigiert werden - sind vorprogrammiert.
Die Kinder dann in der zweiten oder dritten Klasse wieder umzupolen und ihnen statt der antrainierten chaotischen Rechtschreibung die richtigen Schreibweisen beizubringen, ist meist unglaublich schwer. Hirnforscher wissen: Richtig schreiben lernen wir, ähnlich wie Geige spielen oder Hochsprung. Man weiß: Wenn sich dabei gewisse falsche Routinen einmal entwickelt haben, sind sie kaum wieder abzutrainieren.
Viele Eltern machen sich Sorgen
Die Schüler lernen nicht mehr Buchstabe für Buchstabe aus der Fibel – sie schreiben völlig frei nach Gehör. Unterstützung soll ihnen die sogenannte Anlauttabelle geben. Ein Wort wird in Laute unterteilt und die Schüler suchen die ihnen passenden Buchstaben aus der bildlichen Tabelle heraus. A wie Ameise, B wie Banane. Dadurch schreiben sie dann Sätze wie: „Die Bollitzei isst da“.
„Viele Eltern sind völlig verwirrt“, sagt Birgit Völxen von der Landeselternschaft der Grundschulen in NRW. „Sie machen sich große Sorgen, dass die Kinder die Umstellung auf die richtige Rechtschreibung nicht schaffen.“ Eine Sorge, die von wissenschaftlichen Studien untermauert wird. „Mehrere Untersuchungen belegen, dass die Methode ‚Lesen durch Schreiben’ einen höheren Anteil von Schülern mit Rechtschreib-Schwächen produziert“, sagt Renate Valtin, Professorin für Grundschulpädagogik und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben.
Ein Risiko sei die Unterrichtsmethode vor allem für all jene Kinder, die über keine lautklare Aussprache verfügten, sagt Valtin. Kinder aus Migranten-Familien oder mit Dialekt-Einfärbung hätten daher große Schwierigkeiten mit dem „Schreiben nach Gehör“. Christa Röber, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Freiburg, geht sogar noch einen Schritt weiter: „Dieses Lern-Programm ist nur etwas für Kinder, die zu Hause zusätzlich gefördert werden. Alle anderen werden dadurch benachteiligt.“ Es gibt an den Schulen auch viele Kinder, die frühmorgens im Hort abgegeben und spätabends wieder abgeholt werden und ähnliche Schwierigkeiten haben wie Kinder aus bildungsfernen Familien.
Pädagogik-Experten beklagen zudem, dass dem Konzept von Jürgen Reichen jegliche wissenschaftliche Grundlage fehle. „Diese Methode ignoriert alle Erkenntnisse über den Schriftspracherwerb“, sagt Valtin. „Für die Kinder sind Wörter noch identisch mit Gegenständen. Sie haben in dem Alter große Schwierigkeiten, sich auf einzelne Laute zu konzentrieren.“ Auch Pädagogik-Professorin Röber beklagt, dass der Ansatz von falschen Annahmen ausgehe. So könnten Kinder etwa keine Kurzvokale wahrnehmen, dies lernten sie erst über das korrekt geschriebene Wort. „Untersuchungen haben gezeigt, dass nur 0,3 Prozent der Kinder beim Eintritt in die Grundschule den Kurzvokal ‚i’ im Wort Fisch oder das ‚u’ im Wort Hund hören konnten.“
Aus dem neueste Länderbericht mit der Auswertung der Vergleichsarbeit Vera in der dritten Klasse geht hervor, dass zum Beispiel in Berlin dritte Klassen bis zu 75 Prozent den Mindeststandard bei den Lesekompetenzen verfehlen, von der Rechtschreibung gar nicht zu reden. Anonym geben selbst Vertreter übergeordneter Stellen zu, dass die Klarheit über Ziele des Grundschulunterrichts schon seit Jahren nicht mehr systematisch abgefordert wurde.
Mit Angaben der Frankfurter Allgemeine und des WAZ
Ein Mädchen einer Berliner Grundschule hat sich für ein Schleichdiktat entschieden. Das Schleichen ist durchaus wörtlich zu verstehen. An der Eingangstür hängen Sätze, die sie lesen, sich auf dem Rückweg zu ihrem Platz merken und in ihr Heft schreiben soll. Am Ende soll sie die Sätze selbst korrigieren, denn die meisten Schüler finden viele Rechtschreibfehler in ihrer „Abschrift“. „Wenn sie Geschichten schreiben, dürfen sie auch phonetisch schreiben. Da spielt die Rechtschreibung keine Rolle“, erläutert die Lehrerin.
Auch Valerie darf schreiben was sie will. Wörter Sätze, kleine Geschichten – alles kritzelt sie so hin, wie sie es hört und spricht. Ihre Texte willen von Fehlern, doch die Lehrerin korrigiert sie nicht. Valerie geht in die zweite Klasse einer Wuppertaler Grundschule, aber Rechtschreibregeln hat sie bisher nicht gelernt.
Auch Eltern sollen die Schreibfehler ihrer Kinder nicht verbessern, doch im vierten Schuljahr hagelt es dann plötzlich schlechte Noten im Deutschunterricht, weil nun die korrekte Orthographie zu bewerten ist. Diktate werden schon lange nicht mehr geschrieben. Die Schüler wachsen mit dem Gefühl auf, dass Rechtschreibung nicht so wichtig sei - und mit dem Zwiespalt, dass sie richtig geschriebene Worte in Büchern lesen und falsch geschriebene an der Tafel oder in Schulheften.
Das böse Erwachen kommt für die Schüler dann beim Sprung aufs Gymnasium. Es werden plötzlich Anforderungen gestellt, denen die Kinder absolut nicht gewachsen sind. Nachmittags müssen sie nachholen, was man ihnen in der Grundschule nicht beigebracht hat: Eine fehlerfreie Rechtschreibung:
Die meisten Kinder haben nach einer Methode gelernt, die inzwischen an Grundschulen weit verbreitet ist: “Lesen durch Schreiben“, entwickelt vom Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Er ging davon aus, dass Kinder sich die Schriftsprache selbst erarbeiten könnten. Dafür sollen sie zunächst so schreiben, wie sie sprechen. Ein Unding! Zahllose Fehlschreibungen - die von Lehrern über ein oder sogar drei Jahre hinweg nicht oder kaum korrigiert werden - sind vorprogrammiert.
Die Kinder dann in der zweiten oder dritten Klasse wieder umzupolen und ihnen statt der antrainierten chaotischen Rechtschreibung die richtigen Schreibweisen beizubringen, ist meist unglaublich schwer. Hirnforscher wissen: Richtig schreiben lernen wir, ähnlich wie Geige spielen oder Hochsprung. Man weiß: Wenn sich dabei gewisse falsche Routinen einmal entwickelt haben, sind sie kaum wieder abzutrainieren.
Viele Eltern machen sich Sorgen
Die Schüler lernen nicht mehr Buchstabe für Buchstabe aus der Fibel – sie schreiben völlig frei nach Gehör. Unterstützung soll ihnen die sogenannte Anlauttabelle geben. Ein Wort wird in Laute unterteilt und die Schüler suchen die ihnen passenden Buchstaben aus der bildlichen Tabelle heraus. A wie Ameise, B wie Banane. Dadurch schreiben sie dann Sätze wie: „Die Bollitzei isst da“.
„Viele Eltern sind völlig verwirrt“, sagt Birgit Völxen von der Landeselternschaft der Grundschulen in NRW. „Sie machen sich große Sorgen, dass die Kinder die Umstellung auf die richtige Rechtschreibung nicht schaffen.“ Eine Sorge, die von wissenschaftlichen Studien untermauert wird. „Mehrere Untersuchungen belegen, dass die Methode ‚Lesen durch Schreiben’ einen höheren Anteil von Schülern mit Rechtschreib-Schwächen produziert“, sagt Renate Valtin, Professorin für Grundschulpädagogik und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben.
Ein Risiko sei die Unterrichtsmethode vor allem für all jene Kinder, die über keine lautklare Aussprache verfügten, sagt Valtin. Kinder aus Migranten-Familien oder mit Dialekt-Einfärbung hätten daher große Schwierigkeiten mit dem „Schreiben nach Gehör“. Christa Röber, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Freiburg, geht sogar noch einen Schritt weiter: „Dieses Lern-Programm ist nur etwas für Kinder, die zu Hause zusätzlich gefördert werden. Alle anderen werden dadurch benachteiligt.“ Es gibt an den Schulen auch viele Kinder, die frühmorgens im Hort abgegeben und spätabends wieder abgeholt werden und ähnliche Schwierigkeiten haben wie Kinder aus bildungsfernen Familien.
Pädagogik-Experten beklagen zudem, dass dem Konzept von Jürgen Reichen jegliche wissenschaftliche Grundlage fehle. „Diese Methode ignoriert alle Erkenntnisse über den Schriftspracherwerb“, sagt Valtin. „Für die Kinder sind Wörter noch identisch mit Gegenständen. Sie haben in dem Alter große Schwierigkeiten, sich auf einzelne Laute zu konzentrieren.“ Auch Pädagogik-Professorin Röber beklagt, dass der Ansatz von falschen Annahmen ausgehe. So könnten Kinder etwa keine Kurzvokale wahrnehmen, dies lernten sie erst über das korrekt geschriebene Wort. „Untersuchungen haben gezeigt, dass nur 0,3 Prozent der Kinder beim Eintritt in die Grundschule den Kurzvokal ‚i’ im Wort Fisch oder das ‚u’ im Wort Hund hören konnten.“
Aus dem neueste Länderbericht mit der Auswertung der Vergleichsarbeit Vera in der dritten Klasse geht hervor, dass zum Beispiel in Berlin dritte Klassen bis zu 75 Prozent den Mindeststandard bei den Lesekompetenzen verfehlen, von der Rechtschreibung gar nicht zu reden. Anonym geben selbst Vertreter übergeordneter Stellen zu, dass die Klarheit über Ziele des Grundschulunterrichts schon seit Jahren nicht mehr systematisch abgefordert wurde.
Mit Angaben der Frankfurter Allgemeine und des WAZ