Teilweise Schutz und Verständnis in der Presse für Böhmers Kindstötungs-Aussagen
Während sich Politiker von SPD bis Grünen und sogar einige aus der CDU reflexartig über die Aussagen vom Ministerpräsidenten von Sachsen Anhalt, Wolfgang Böhmer, aufregen, erhält er ein gewisses Maß an Verständnis von der Presse, auch wenn sie ihm nicht zustimmt.So schreibt die Süddeutsche Zeitung vom 26. Februar: „Die Zahlen sind bedrückend. In Ostdeutschland, so hat der hannoversche Kriminologe Christian Pfeiffer herausgefunden, ist das Risiko kleiner Kinder, von den eigenen Eltern getötet zu werden, gut dreimal höher als in Westdeutschland. ... Wolfgang Böhmer hat ein halbes Berufsleben als Gynäkologe in der DDR verbracht. Als bekennender Christ muss es ihm eine Anfechtung gewesen sein, dass Abtreibungen seit 1972 praktisch im Vorübergehen möglich waren. Denn richtig ist, dass Schwangerschaftsabbruch in der DDR tatsächlich ein Mittel der Familienplanung war. Für Frauen, die ungewollt schwanger wurden, war es ein Leichtes, das Kind wieder loszuwerden.“
Die Süddeutsche kommt aber zum Ergebnis, daß die Kindstötungen mit der defizitären sozialen Lage zusammenhängen und nicht mit der DDR-Geschichte.
Die FAZ, die auch die Analyse Böhmers ablehnt, äußert ebenfalls ein gewisses Verständnis und schreibt: „Weshalb Böhmer mit diesen Sätzen, wie es jetzt heißt, "jede ostdeutsche Frau" gekränkt oder diffamiert haben soll, ist trotz des wolkigen Wortes "Mentalität" nicht erfindlich. Inwiefern Böhmer verantwortungsbewusste Eltern zynisch mit Kindsmördern gleichgesetzt hat, wie der Ostbeauftragte Tiefensee (SPD) sich empört, noch viel weniger. Denn auch andere Erklärungen einer Häufung von Kindestötungen in bestimmten Regionen, etwa durch die ökonomische Lage oder die soziale Isolation von Müttern, laufen ja nicht auf die Behauptung hinaus, wer im Osten arm sei oder vereinsamt, besitze schon deshalb eine Neigung zu Gewaltverbrechen gegen Schutzbefohlene. Dass sich gleich immer alle Mitglieder einer statistischen Merkmalsgruppe beleidigt fühlen sollen, wenn eine Durchschnittsziffer - Kindstötungen pro 100 000 Einwohner nach Bundesländern - angesprochen wird, gehört zu den inzwischen gut eingeführten Dummheiten des öffentlichen Aufregungszusammenhanges.“
Um die Ursachen der Kindstötungen in Ostdeutschland zu erklären zitiert die FAZ eine internationale Studie von Unicef: „Eine der wenigen internationalen Vergleichsstudien zur Kindesmisshandlung mit Todesfolge stellt fest, dass sie in Ländern besonders häufig ist, in denen generell Gewaltverbrechen häufig sind. Weltweit die höchsten Raten bei der tödlichen Kindesmisshandlung haben Portugal, Mexiko und die Vereinigten Staaten; besonders gering sind sie beispielsweise in Spanien, Griechenland und Norwegen. Schaut man sich die einschlägige Unicef-Zahlen an ("A league table of child maltreatement deaths in rich nations", im Internet unter: www.unicef-irc.org/publications/pdf/repcard5e.pdf), dann dürfte es schwerfallen, einen Zusammenhang zum jeweiligen nationalen Abtreibungsrecht herzustellen. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt hat insofern etwas mindestens so Undurchdachtes gesagt wie die meisten seiner Kritiker.“
Focus Online hat die Meinung des Leiters des Kriminologischen Instituts in Niedersachsen, Christian Pfeiffer, eingeholt: „Pfeiffer äußerte damit Verständnis für Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU). . . Der Kriminologe aus Hannover ist dem Politiker für seinen „Denkanstoß“ durchaus dankbar – selbst wenn er ihn für einseitig und „unglücklich formuliert“ hält. „Böhmers These muss überprüft werden. Ohne seine Hypothese könnten wir die Forschung nicht machen“, sagte er. „Wir sollten nicht den Stab über ihn brechen und ihm vorwerfen, er hätte seine Landsleute verraten.“
Auch der linksliberale Berliner Tagesspiegel vom 25. Februar zitiert den Kriminologen Christian Pfeiffer.
Ebenfalls die WELT vom 26. Februar holte Kommentare von Experten ein. Die meisten zeigen teilweise Verständnis für Böhmer ohne seine Ursachenforschung zu teilen: „Der Berliner Politikwissenschaftler Klaus Schroeder sagte, in Ostdeutschland gebe es bei der Entscheidung für ein Kind immer noch andere Traditionen als im Westen. Dieser Fakt könne bei der Ursachenforschung eine Rolle spielen. ‚Wenn Herr Böhmer einen Unterschied zwischen Mentalitäten in Ost und West meinte, hat er Recht’, sagte Schroeder. Kindstötungen dabei jedoch allein für eine Folge der DDR-Abtreibungspolitik zu halten, sei "Quatsch", ergänzte er. ‚Es hat mich völlig überrascht, dass ein aufrechter Politiker wie Herr Böhmer so etwas sagt’. Möglicherweise spielte vielmehr die höhere Zahl alleinstehender Mütter in Ostdeutschland eine Rolle. Ursachen für den zum Teil hohen Grad an Verwahrlosung könnten auch in der breiteren Unterschicht im Osten liegen, sagte Schroeder.“
Die linksalternative TAZ vom 24.Februar fordert in ihrem Kommentar nicht gleich den Rücktritt von Böhmer, aber spricht ihm ab, seriöse Politik betreiben zu können. Der Grund ist sein praktiziertes Christentum: „Es ist nicht das erste Mal, dass sich der praktizierende Christ Wolfgang Böhmer kritisch zum liberalen Abtreibungsrecht, das in der DDR herrschte, geäußert hat. Das macht die Sache allerdings nicht besser, sondern verdeutlicht lediglich: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident ist ein Überzeugungstäter. Indem er Abtreibungen in direkten Zusammenhang mit der Ermordung von Babys stellt, denunziert er den Schwangerschaftsabbruch generell. Insofern beleidigt sein Vorstoß nicht nur ostdeutsche Frauen. Es ist auch ein Affront gegen das bundesdeutsche Recht auf Abtreibung…. Wer abtreibt, bringt auch Kinder um? Wer so etwas auch nur nahe legt, hat den Boden seriöser Politik verlassen.“