Sterbehilfe: Angehörige erleiden posttraumatische Belastungsstörung

Sterbehilfeorganisationen versprechen den Angehörigen einen harmonischen Abschied von dem Suizidwilligen. Doch die Wirklichkeit sieht möglicherweise anders aus. Nach einer Querschnittsstudie in European Psychiatry (2012; 27: 542–546) leidet jeder fünfte Augenzeuge eines assistierten Tods noch viele Monate später an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder seiner Vorstufe. Jeder sechste zeigt Zeichen einer Depression.

Die Sterbehilfeorganisation Exit Deutsche Schweiz, die anders als Dignitas nicht im Ausland tätig ist, hat nach eigenen Angaben 60.000 Mitglieder, die gewillt sind, jedes Jahr 45 Franken (oder auf Lebenszeit einmalig 900 Franken) zu zahlen. Dafür hält die Organisation eine letale Dosis Natrium-Pentobarbital bereit, die die Mitglieder abrufen können, wenn sie sich zum Freitod entschieden haben.

Das Medikament wird am Tag des Todes von einem freiwilligen Mitglied der Organisation zum gewünschten Ort, in der Regel die Wohnung des Suizidwilligen, gebracht, und persönlich überreicht. Eine EXIT-Begleitung sorgt für einen „sanften, sicheren und würdigen Tod durch Einschlafen … im eigenen Zuhause, umgeben von den engsten Angehörigen“, heißt es auf dem Internetportal der Sterbehilfeorganisation. Das suggeriert einen harmonischen Abschied, der in guter Erinnerung bleiben soll.

Doch ganz so stressfrei scheint der assistierte Suizid für die Augenzeugen nicht zu sein, wie eine Studie zeigt, die Birgit Wagner am Universitätsspital Zürich durchführte. Die Autorin, die heute an der Universität Leipzig tätig ist, schrieb 167 Verwandte und Freunde an, die Augenzeuge des assistierten Selbsttodes von 111 Mitgliedern von Exit Deutsche Schweiz waren. Insgesamt 85 Personen schickten die Fragebögen zurück, in denen die Forscherin sich nach Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung (Impact of Event Scale–Revised), komplizierter Trauer (Inventory of Complicated Grief-SF) und Depressionen (Brief Symptom Inventory) erkundigte.

Ergebnis: 13 Prozent der Augenzeugen des assistierten Freitods, der zum Zeitpunkt der Umfrage 14 bis 24 Monate zurücklag, erfüllten die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung PTSD. Bei weiteren 6,5 Prozent lag eine unterschwellige PTSD vor. Bei 4,9 Prozent stellte Wagner eine komplizierte Trauer fest. Zeichen einer Depression fand sie bei 16 Prozent der Zeugen des assistierten Freitods. Mit der Ausnahme der komplizierten Trauer lag die Prävalenz damit höher als in der Schweizer Allgemeinbevölkerung gleichen Alters, schreibt Wagner.

Da die Studie keine Vergleichsgruppe kann Wagner streng genommen nicht beweisen, dass die Augenzeugen eines assistierten Suizids mehr litten, als dies bei einem natürlichen Tod ihres Angehörigen oder Freundes der Fall gewesen wäre. Auch die niedrige Rücklaufquote der Fragebögen von 51 Prozent (sie ist für derartige Studien aber nicht ungewöhnlich) könnte die Ergebnisse verfälscht haben: Betroffenen Personen mit PTSD könnte häufiger als solche ohne PTSD geantwortet haben.

Die Forscherin vermutet aber, dass ein assistierter Suizid die Augenzeugen belastet. Sie rät den Sterbehilfeorganisationen, die Angehörigen besser auf die Situation vorzubereiten, in der die Todeswilligen die letale Barbituratdosis einnehmen. Im Fall einer posttraumatischen Belastungsstörung solle den Angehörigen später professionelle Hilfe angeboten werden.

Einer Meldung der Katholischen Nachrichten Agentur zufolge, äußerte sich der Ethiker Markus Zimmermann, Universität Fribourg, nicht überrascht von den Ergebnissen. Zimmermann leitet das Nationale Forschungsprogramm zum Thema Lebensende, das der Schweizerische Nationalfonds am Mittwoch gestartet hat. Aus langjähriger Erfahrung wisse er, dass das Thema assistierte Suizidhilfe viele Angehörige ein Leben lang begleite. Es gebe auch Betroffene, die diesen Prozess nicht verkraften würden.


Quelle: www.aerzteblatt.de/04.12.2012