Schweiz: Sexueller Kindesmissbrauch via Internet nimmt zu

(Pressemitteilung der Universität Zürich/Nathalie Huber, Kommunikation) Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist in der Schweiz weit verbreitet. Nahezu zwei von fünf Mädchen und einer von sechs Jungen waren bereits Opfer eines sexuellen Missbrauchs. Die Mehrheit wird von jugendlichen Tätern missbraucht und berichtet nicht über den Vorfall. Heute findet sexuelle Belästigung am meisten via Internet statt. Im Vergleich zu zehn Jahre früher haben schwerere Formen von Missbräuchen nicht zugenommen, wie eine repräsentative Untersuchung von Forschern der Universität Zürich, des Kinderspitals Zürich und des Universitätsspitals Zürich zeigt.

Sexueller Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen kann für die Betroffenen schwerwiegende gesundheitliche Konsequenzen haben. Frühere Studien zeigen, dass bei sexuellem Kindesmissbrauch eine erhöhte Gefahr besteht für ein später auftretendes Risikoverhalten sowie psychische und körperliche Erkrankungen. Das Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich, die Abteilung Psychosomatik und Psychiatrie des Kinderspitals Zürich sowie die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich zeigen anhand einer repräsentativen Stichprobe von mehr als 6000 Schweizer Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse, dass sexueller Missbrauch alarmierend weit verbreitet ist.

Sexuelle Belästigung via Internet am meisten genannt

Von den Befragten, vorwiegend im Alter von 15 bis 17 Jahren, haben rund 40 Prozent der Mädchen und 17 Prozent der Jungen angegeben, jemals mindestens eine Art von sexuellem Kindesmissbrauch erlebt zu haben. Im Vergleich zu den Jungen kam bei den Mädchen sexueller Missbrauch ohne Körperkontakt mehr als doppelt so häufig vor und dreimal so häufig sexueller Missbrauch mit Körperkontakt aber ohne Penetration.

Am häufigsten nannten beide Geschlechter die sexuelle Belästigung via Internet. Diese Form des sexuellen Missbrauchs erlebten rund 28 Prozent der Mädchen zeit ihres Lebens und bei den Jungen beinahe 10 Prozent. Mit knapp 15 Prozent bei den Mädchen versus knapp 5 Prozent bei den Jungen folgt an zweiter Stelle die verbale sexuelle Belästigung, worunter auch jene via E-Mail oder SMS fällt. Gegen den eigenen Willen geküsst oder berührt wurden beinahe 12 Prozent der befragten Mädchen bzw. 4 Prozent der Jungen. 2,5 Prozent der Mädchen haben bereits einen sexuellen Missbrauch mit Penetration (vaginal, oral, anal oder anderes) erlebt, bei den Jungen waren es 0,6 Prozent.

Die Resultate der Zürcher Studie sind vergleichbar mit denjenigen einer früheren Schweizer Studie, die zwischen 1995 und 1996 in Genf mit einer ähnlichen Altersgruppe und vergleichbaren Fragen durchgeführt worden ist. Die Prävalenz von sexuellem Missbrauch mit Körperkontakt ist heute praktisch unverändert. Allerdings kommt sexueller Missbrauch ohne Körperkontakt deutlich häufiger vor. «Wir gehen davon aus, dass dieser Unterschied auf die Belästigung via Internet, E-Mail oder SMS zurückzuführen ist. Diese Art von sexuellem Missbrauch wurde damals nicht erhoben», erklärt Meichun Mohler-Kuo, Dozentin am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich.

Mehrheit ist Opfer von jugendlichen Tätern

Mehr als die Hälfte der weiblichen Opfer und mehr als 70 Prozent der männlichen Opfer gaben an, von jugendlichen Tätern missbraucht worden zu sein. Zudem kannten die meisten Opfer von körperlichem sexuellem Missbrauch die Täter – beispielsweise waren es Partner, Kollegen oder Bekannte. «Dieser, im Gegensatz zur Genfer Studie, neue Trend der jugendlichen Täter aus dem Kollegen- oder Bekanntenkreis könnte darauf zurückzuführen sein, dass sich heute Jugendliche untereinander gewalttätiger verhalten als früher», erklärt Ulrich Schnyder, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich. Und er ergänzt: «Unsere Resultate unterscheiden sich auch deutlich von offiziellen Polizeiberichten, wonach Täter am häufigsten erwachsene, männliche Verwandte sind.» Dies deute darauf hin, dass die beschriebenen Missbräuche häufig nicht gemeldet werden.

Mehrheit berichtet nicht über sexuellen Missbrauch

Nur etwa die Hälfte der weiblichen und weniger als ein Drittel der männlichen Opfer teilten den an ihnen verübten sexuellen Missbrauch jemandem mit; die Rate dieser Offenlegungen nahm bei schwererem sexuellen Missbrauch ab. Die meisten Opfer vertrauten sich ihren Kolleginnen und Kollegen an, weniger als 20 Prozent ihrer Familie. Weniger als 10 Prozent der Opfer meldeten den sexuellen Missbrauch der Polizei. «Im Vergleich zu ähnlichen Studien aus anderen Ländern sind die Zahlen der Schweizer Studie bezüglich Offenlegung sehr tief. Die Zurückhaltung, solche Vorfälle gegenüber der Familie oder den Behörden zu melden, erschweren rechtzeitige Interventionen», schliesst Ulrich Schnyder.

Literatur:
Meichun Mohler-Kuo, Markus A. Landolt, Thomas Maier, Verena Schönbucher, Ursula Meidert, Ulrich Schnyder. Child sexual abuse revisited: A population-based cross-sectional study among Swiss adolescents. Journal of adolescent health. October 29, 2013.

Hintergrund
Die Befragung wurde in 22 Kantonen durchgeführt. Gegenstand der Untersuchung waren die Häufigkeit, Merkmale und Umstände von sexuellem Missbrauch während des gesamten Lebens sowie der letzten zwölf Monate. Folgende Formen von sexuellem Missbrauch wurden u.a. bei der Befragung unterschieden:

Sexueller Missbrauch ohne Körperkontakt
· Gezwungen werden, sich nackt zu zeigen oder nackt fotografieren zu lassen
· Gezwungen werden, dem Geschlechtsverkehr anderer Personen beizuwohnen
· Gezwungen werden, pornographisches Material anzuschauen
· Verbale sexuelle Belästigung mittels E-Mail oder SMS
· Sexuelle Belästigung via Internet

Sexueller Missbrauch mit Körperkontakt aber ohne Penetration
· Gegen den Willen geküsst oder berührt werden

Sexueller Missbrauch mit Penetration
· Erzwungener vaginaler Geschlechtsverkehr
· Erzwungener Analverkehr
· Erzwungener Oralverkehr

Die Befragung ist Teil der «Optimus Studie», die vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich, der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich sowie der Abteilung Psychosomatik und Psychiatrie des Kinderspitals Zürich geleitet wurde. Die «Optimus Studie» wurde von der UBS Optimus Foundation (www.optimusstudy.org) initiiert und finanziert.

PD Dr. Meichun Mohler-Kuo
Institut für Sozial- und Präventivmedizin
Universität Zürich
Tel. +41 44 634 46 37
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. Ulrich Schnyder
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
UniversitätsSpital Zürich
Tel. +41 44 255 52 51
E-Mail: [email protected]