Schweiz: Mehr Suizide wegen Sterbehilfe
Die Suizidrate im Kanton Bern ist gestiegen. Ein Grund: In der Schweiz breite sich die Suizidhilfe aus, sagt Suizidforscher Thomas Reisch.
Im letzten Jahr haben sich im Kanton Bern 251 Menschen das Leben genommen – 63 mehr als 2011. Das entspricht einem Anstieg um über einen Drittel, wie die Kriminalstatistik der Kantonspolizei zeigt. Diese Entwicklung ist vor allem der Sterbehilfe und dem «Überfahrenlassen» zuzuschreiben, also dem Suizid durch den Sprung vor einen Zug. «Die anderen Zahlen liegen im normalen Schwankungsbereich», sagt Thomas Reisch, Suizidforscher und leitender Arzt am Psychiatriezentrum Münsingen.
2011 machte der Tod via Sterbehilfe 25 Prozent aller Suizide aus, 2012 waren es bereits 40 Prozent. Sterbehilfeorganisationen würden immer präsenter, weshalb sie in der Bevölkerung und insbesondere bei älteren Menschen an Akzeptanz gewinnen würden, so Reisch. Daher sinke die Hemmschwelle, «sich beim Sterben helfen zu lassen».
In Fällen von «todbringenden Krebsleiden» könne er verstehen, so Reisch, dass man auf diese Methode zurückgreife. «Es gibt aber einen sehr grossen Anteil, wo mit Hilfe viel hätte erreicht werden können.» Dass in Bern die Zahlen steigen, habe auch damit zu tun, dass sich die Sterbehilfe in der ganzen Schweiz ausbreite, während die Organisationen Dignitas und Exit zuvor vor allem in Zürich agierten.
Unfreiwillige Zeugen
Jeder Suizid hinterlässt Angehörige in Ohnmacht und Trauer. Und er hinterlässt meist auch Menschen, die unfreiwillig Zeuge werden – Lokomotivführer etwa. Die Zahl der Suizide durch «Überfahrenlassen» ist im Vergleich zum Vorjahr und anderen Methoden am deutlichsten gestiegen. «Das liegt im nationalen Trend», sagt Reisch. Das könne damit zusammenhängen, dass die Fälle oft publik würden, nicht nur durch Medien: «Auch Menschen an den Bahnhöfen oder in stillstehenden Zügen diskutieren darüber.»
Beunruhigend sei, dass vor allem junge Männer und Frauen diese Methode verwendeten. Weshalb dem so ist, kann Reisch nicht erklären. Er bezeichnet die Entwicklung aber als problematisch. Es könnten weitaus mehr Suizide verhindert werden, «wenn früh genug mit Angehörigen gesprochen oder der Notfall oder der Hausarzt aufgesucht würde», sagt Reisch.
«Menschen, die sich das Leben nehmen, sind in den meisten Fällen psychisch krank und leiden am häufigsten an Depressionen», sagt er und bemängelt, dass für psychiatrische Hilfe zu wenig Geld zur Verfügung stehe. «Von allen, die durch Suizid sterben, haben 95 Prozent eine psychiatrische Diagnose.» Deshalb sei etwa die Betreuung in den ersten zwei Wochen nach einem Klinikaufenthalt besonders wichtig, die Ressourcen dafür aber nur beschränkt vorhanden. «Da werden durch Sparmassnahmen einige Suizide nicht verhindert.»
Quelle: Der Bund vom 26. März 2013