Ritalin: Die Droge für eine angepasste Generation
Christiane Jurczik
Die Ruhigen leiden an Autismus, die Wilden an ADHS: Normales Verhalten von Kindern wird heute viel zu schnell für pathologisch erklärt, schreiben Beate Frenkel und Astrid Randerath. Ihr Buch "Die Kinderkrankmacher" ist ein atemberaubender Weckruf – an alle die noch in der Lage sind Dinge zu interfragen.
Was zur kindlichen Persönlichkeit dazu gehört − unfertig, verspielt, stürmisch und sprunghaft zu sein − würde heute in einem erschreckenden hohen Ausmaß für behandlungsbedürftig erklärt. Das müsse aufhören, fordern die Autorinnen. Denn immer mehr Kinder werden mit Ritalin ruhig gestellt.
Vor allem Jungen werden Opfer dieser Entwicklung, so Beate Frenkel und Astrid Randerath und sprechen von der "Pathologisierung eines Geschlechts". Jungen wird viermal so oft ein schweres Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom attestiert wie Mädchen und sie werden mit dem Wirkstoff Methylphenidat behandelt. Die Zahlen, die das Buch vorlegt, lassen schwindeln: Wurden 1995 in Deutschland 40 Kilogramm Methylphenidat an Kinder und Jugendliche verordnet, waren es 2012 schon 1,75 Tonnen − eine Steigerung um das 43-fache.
Das sich von diesem rasant wachsenden Markt die Pharmafirmen einen großen Anteil sichern wollen, ist selbstverständlich. Daher wird in verschiedenen Informationsbroschüren dieser Firmen die Diagnose ADS / ADHS immer wieder in den Vordergrund gerückt, auch wenn aktuelle Forschungen oftmals ein anderes Bild zeigen. Doch die Diagnose hat sich mittlerweile so in den Köpfen der Menschen festgesetzt, dass bei auffälligem Verhalten oder auch akutem Schulversagen viel zu schnell und zu leicht diese Diagnose von Personen gestellt wird, die dazu weder ausgebildet, noch fachlich in der Lage sein sollten.
Ritalin gehört dabei zu den Amphetaminen. Gerne auch von der Öffentlichkeit als “Kinderkoks” beschrieben, sorgt Ritalin für eine Dämpfung in bestimmten Hirnarealen des kindlichen Hirns. Ritalin greift dabei dort in den Gehirnstoffwechsel ein, wo die Aufmerksamkeit und der Bewegungsdrang gesteuert werden und sorgt dort für eine schnell einsetzende Veränderung. Bereits kurz nach der Einnahme werden die betroffenen Kinder ruhiger, konzentrierter und unauffälliger. So angenehm dies in den Ohren vieler Eltern, Erzieher und Lehrer auch erscheinen mag, ist so ein Verhalten doch oftmals unnatürlich und nur durch die Gabe von Ritalin bewirkt. Eine nachhaltige Veränderung des Zustandes ist damit nicht zu erreichen. Denn Ritalin bekämpft die Auswirkungen der diagnostizierten Krankheit, ändert jedoch nichts an ihren Auslösern.
Und viele Eltern akzeptieren diese Diagnose auch liebend gerne, denn dank Ritalin müssen sie sich nicht über ihre Erziehung oder das familiäre Umfeld Gedanken machen, sondern können beruhigt und ohne Störung ihr bisheriges Leben fortführen. So verdienen die Pharmaunternehmen durch die laxe Verschreibungspraxis und die unkritische Akzeptanz der Diagnose Milliarden von Euro pro Jahr, auf Kosten der Gesundheit unserer Kinder. Das perfide dabei. Da die Nebenwirkungen sehr häufig auftreten und sich über verschiedene Bereiche erstrecken, umfassen die meisten Beipackzettel von Ritalin einem extra Abschnitt nur für die Kinder selber.
In diesem wird den Kindern in passender Sprache das Medikament erklärt und die Nebenwirkungen deutlich gemacht. Dabei wird jedoch die Notwendigkeit der dauerhaften Einnahme von Ritalin immer wieder angepriesen und sorgt bei den leicht zu beeinflussenden Kindern direkt für eine hohe Akzeptanz des Medikaments. Besser kann man die kleinen Patienten nicht von der Notwendigkeit eines Medikaments überzeugen.
Hinzu kommen immer "neue" Kinderkrankheiten und Diagnosen: Verträumte Kinder sollen unter Wahrnehmungsdefiziten leiden; introvertierte Kinder unter Autismus oder Asperger. Die Vergabe von Antidepressiva an die Jüngsten der Gesellschaft ist in den letzten zehn Jahren explodiert, ebenso wie die Gabe von Antipsychotika, also von Medikamenten, die für Erwachsene mit schwersten Wahnvorstellungen entwickelt wurden. Schönheitsoperationen sind schon für Elfjährige im Portfolio der Chirurgie. Bunte Flyer in Frauenarztpraxen preisen pubertierenden Mädchen die Pille als Mittel gegen Hautunreinheiten an. Und wer auch nur ein bisschen langsamer wächst als seine Altersgenossen, dem könne täglich eine Spritze mit Wachstumshormonen helfen − Nebenwirkungen bis hin zum schweren Herzleiden nicht ausgeschlossen.
Die Autorinen mahnen in ihrem Buch dringend zum Umdenken. Seit nicht einmal hundert Jahren gesteht diese Gesellschaft Kindern überhaupt eine Kindheit zu. Unter dem Druck von Gleichmacherei und Optimierung ist sie derzeit dabei, Kindern dieses Privileg wieder zu entziehen.
Rolf-Ulrich Schlenker, Vizechef der Barmer GEK, sprach von einer besorgniserregenden Entwicklung. Es müsse aufpasst werden, dass die ADHS-Diagnostik "nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren." Pillen gegen Erziehungsprobleme seien der falsche Weg. Es komme vielmehr auf trennscharfe Diagnosen an. Zudem gebe es eine Reihe von anderen Therapieoptionen wie zum Beispiel ein gezieltes Elterntraining oder eine Verhaltenstherapie. "Ritalin darf nicht per se das Mittel der ersten Wahl sein", forderte Schlenker.
Mit Informationen von Deutschlandradiokultur.de vom 12.03.15
Die Ruhigen leiden an Autismus, die Wilden an ADHS: Normales Verhalten von Kindern wird heute viel zu schnell für pathologisch erklärt, schreiben Beate Frenkel und Astrid Randerath. Ihr Buch "Die Kinderkrankmacher" ist ein atemberaubender Weckruf – an alle die noch in der Lage sind Dinge zu interfragen.
Was zur kindlichen Persönlichkeit dazu gehört − unfertig, verspielt, stürmisch und sprunghaft zu sein − würde heute in einem erschreckenden hohen Ausmaß für behandlungsbedürftig erklärt. Das müsse aufhören, fordern die Autorinnen. Denn immer mehr Kinder werden mit Ritalin ruhig gestellt.
Vor allem Jungen werden Opfer dieser Entwicklung, so Beate Frenkel und Astrid Randerath und sprechen von der "Pathologisierung eines Geschlechts". Jungen wird viermal so oft ein schweres Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom attestiert wie Mädchen und sie werden mit dem Wirkstoff Methylphenidat behandelt. Die Zahlen, die das Buch vorlegt, lassen schwindeln: Wurden 1995 in Deutschland 40 Kilogramm Methylphenidat an Kinder und Jugendliche verordnet, waren es 2012 schon 1,75 Tonnen − eine Steigerung um das 43-fache.
Das sich von diesem rasant wachsenden Markt die Pharmafirmen einen großen Anteil sichern wollen, ist selbstverständlich. Daher wird in verschiedenen Informationsbroschüren dieser Firmen die Diagnose ADS / ADHS immer wieder in den Vordergrund gerückt, auch wenn aktuelle Forschungen oftmals ein anderes Bild zeigen. Doch die Diagnose hat sich mittlerweile so in den Köpfen der Menschen festgesetzt, dass bei auffälligem Verhalten oder auch akutem Schulversagen viel zu schnell und zu leicht diese Diagnose von Personen gestellt wird, die dazu weder ausgebildet, noch fachlich in der Lage sein sollten.
Ritalin gehört dabei zu den Amphetaminen. Gerne auch von der Öffentlichkeit als “Kinderkoks” beschrieben, sorgt Ritalin für eine Dämpfung in bestimmten Hirnarealen des kindlichen Hirns. Ritalin greift dabei dort in den Gehirnstoffwechsel ein, wo die Aufmerksamkeit und der Bewegungsdrang gesteuert werden und sorgt dort für eine schnell einsetzende Veränderung. Bereits kurz nach der Einnahme werden die betroffenen Kinder ruhiger, konzentrierter und unauffälliger. So angenehm dies in den Ohren vieler Eltern, Erzieher und Lehrer auch erscheinen mag, ist so ein Verhalten doch oftmals unnatürlich und nur durch die Gabe von Ritalin bewirkt. Eine nachhaltige Veränderung des Zustandes ist damit nicht zu erreichen. Denn Ritalin bekämpft die Auswirkungen der diagnostizierten Krankheit, ändert jedoch nichts an ihren Auslösern.
Und viele Eltern akzeptieren diese Diagnose auch liebend gerne, denn dank Ritalin müssen sie sich nicht über ihre Erziehung oder das familiäre Umfeld Gedanken machen, sondern können beruhigt und ohne Störung ihr bisheriges Leben fortführen. So verdienen die Pharmaunternehmen durch die laxe Verschreibungspraxis und die unkritische Akzeptanz der Diagnose Milliarden von Euro pro Jahr, auf Kosten der Gesundheit unserer Kinder. Das perfide dabei. Da die Nebenwirkungen sehr häufig auftreten und sich über verschiedene Bereiche erstrecken, umfassen die meisten Beipackzettel von Ritalin einem extra Abschnitt nur für die Kinder selber.
In diesem wird den Kindern in passender Sprache das Medikament erklärt und die Nebenwirkungen deutlich gemacht. Dabei wird jedoch die Notwendigkeit der dauerhaften Einnahme von Ritalin immer wieder angepriesen und sorgt bei den leicht zu beeinflussenden Kindern direkt für eine hohe Akzeptanz des Medikaments. Besser kann man die kleinen Patienten nicht von der Notwendigkeit eines Medikaments überzeugen.
Hinzu kommen immer "neue" Kinderkrankheiten und Diagnosen: Verträumte Kinder sollen unter Wahrnehmungsdefiziten leiden; introvertierte Kinder unter Autismus oder Asperger. Die Vergabe von Antidepressiva an die Jüngsten der Gesellschaft ist in den letzten zehn Jahren explodiert, ebenso wie die Gabe von Antipsychotika, also von Medikamenten, die für Erwachsene mit schwersten Wahnvorstellungen entwickelt wurden. Schönheitsoperationen sind schon für Elfjährige im Portfolio der Chirurgie. Bunte Flyer in Frauenarztpraxen preisen pubertierenden Mädchen die Pille als Mittel gegen Hautunreinheiten an. Und wer auch nur ein bisschen langsamer wächst als seine Altersgenossen, dem könne täglich eine Spritze mit Wachstumshormonen helfen − Nebenwirkungen bis hin zum schweren Herzleiden nicht ausgeschlossen.
Die Autorinen mahnen in ihrem Buch dringend zum Umdenken. Seit nicht einmal hundert Jahren gesteht diese Gesellschaft Kindern überhaupt eine Kindheit zu. Unter dem Druck von Gleichmacherei und Optimierung ist sie derzeit dabei, Kindern dieses Privileg wieder zu entziehen.
Rolf-Ulrich Schlenker, Vizechef der Barmer GEK, sprach von einer besorgniserregenden Entwicklung. Es müsse aufpasst werden, dass die ADHS-Diagnostik "nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren." Pillen gegen Erziehungsprobleme seien der falsche Weg. Es komme vielmehr auf trennscharfe Diagnosen an. Zudem gebe es eine Reihe von anderen Therapieoptionen wie zum Beispiel ein gezieltes Elterntraining oder eine Verhaltenstherapie. "Ritalin darf nicht per se das Mittel der ersten Wahl sein", forderte Schlenker.
Mit Informationen von Deutschlandradiokultur.de vom 12.03.15