Kentler-Experiment: Kein Schlusstrich!
Nina Stec
In den 1960er/70er Jahren etablierte sich in progressivgesinnten Teilen der Gesellschaft ein neuer `antiautoritärer` und `emanzipatorischer` Erziehungsstil als Alternative oder zur Ersetzung traditioneller Erziehungsmethoden. Durch möglichst wenig Einschränkung der Rechte und Freiheiten von Minderjährigen sollten diese sich zu autonomen, selbstbewussten Erwachsenen entwickeln können. Doch vermeintlich gutgemeint und gutgemacht sind nicht zwingend identisch, somit ist es nicht verwunderlich, wenn die Kritik an dieser Erziehungsweise zunimmt.
Neben Diskussionen über Sinnhaftigkeit dieser Pädagogik ist in jüngster Zeit noch eine viel dunklere Dimension von ihr ans Tageslicht getreten: Das sogenannte Kentler-Experiment in Berlin, in dessen Rahmen über 30 Jahre lang als problematisch geltende Kinder und Jugendliche von Jugendämtern an bekanntlich pädophile Pflegeväter vermittelt wurden.
Zum Hintergrund: Helmut Kentler war ein bekannter und umstrittener Psychologe und Pädagoge mit Schwerpunkt Sexualität, der in den 60er/70er Jahren in Deutschland wirkte. Er setzte sich für eine `emanzipatorische` Sexualerziehung ein, die vor allem darin bestand, das frühe und uneingeschränkte Ausleben der `kindlichen Sexualität` zu fördern und auch Sexualkontakte zwischen Minderjährigen und Erwachsenen zu begrüßen. In einem Modellversuch brachte er mehrere verhaltensauffällige Jungen im Teenageralter bei Pädophilen Männern unter, was er perverser Weise als Win-Win-Situation einschätze, da seiner Meinung nach niemand diese Kinder haben wolle, außer Personen, die ein klares sexuelles Interesse an ihnen hegen.
Die plumpe `Logik` und `Ethik` dahinter zusammengefasst: Die Kinder und Jugendlichen fallen niemandem zur Last, haben ein Dach über dem Kopf und evtl. die Chance eine nützliche Erziehung und Ausbildung zu erhalten (wenn die Pädophilen Pflegeväter ihnen eine solche zukommen lassen), während die Männer sich zumindest nicht an anderen Minderjährigen vergreifen.
Dieser Gedanke ist allerdings nichts als pure Menschenverachtung: Notleidende Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen werden von Anfang an als Problem gesehen, das es zu `lösen` gilt, anstatt sie als wertvolle und besonders Schützenswerte Mitglieder der Gesellschaft zu betrachten. Sie werden zu Sex- und Versuchsobjekten für durchgeknallte Ideologien perverser Erwachsener degradiert und dem Missbrauch freigegeben.
Wie solche Anschauungen und das daraus folgende Handeln mit dem Stichwort der geforderten Emanzipation` und `Freiheit` von Kindern und Jugendlichen zusammenpassen sollen, bleibt schleierhaft, bzw. ergibt überhaupt keinen Sinn. So `erzogene` Kinder können sich überhaupt nicht frei entfalten, sondern werden der gewaltsamen Autorität einer anderen, `avantgarden` Ideologie unterworfen. Diese ist mit Kentler allerdings noch längst nicht an ihr Ende gekommen. Z.B. in den Ausführungen einer jüngeren Generation von Pädagogen rund um die umstrittene „Sexualpädagogik der Vielfalt“ lebt sein Erbe in abgeschwächter Form noch heute weiter.
Die aus dem Kentler-Experiment entstandenen Pflegestellen gab es bis etwa 2003. Erst 2015 wurde ihre Existenz publik. Seit 2016 beschäftigt sich die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie mit der Sache, die nach einem Urteil des Göttinger Instituts für Demokratieforschung als „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung“ eingestuft wird. Doch der Fall ist noch lange nicht abgeschlossen: Die genaue Anzahl der Täter und Opfer ist bisweilen noch unbekannt. Während die Zuständigkeit für die Vergehen, bzw. ihre Existenz trotz starker Beweislast seitens der zuständigen Behörden jahrelang verleugnet wurde kämpfen damalige Opfer heute seelisch mit den durch den Missbrauch erlittenen Traumata und juristisch um das Recht auf Entschädigung gegen die Verjährungsfrist.
Quellen:
Scheffer, Regine, Das Erbe Kentlers lebt weiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.06.2020
Bethke, Hannah, Missbrauch als Erziehung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.06.2020
Schmoll. Heike, Pädagogische Avantgarde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.06.2020