Jugendamt: Mehr Kinder denn je in Obhut genommen

<p>Nina Stec</p><p>In den vergangenen zwanzig Jahren ist die Zahl der Kinder, die vom Jugendamt dauerhaft oder vorübergehend aus ihren Familien genommen wurden, rasant angestiegen. Während 1995 noch 22000 Kinder und Jugendliche betroffen waren, kam es 2016 zu 39.295, also nahezu doppelt so vielen, Inobhutnahmen. Werden die Fälle der Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlinge hinzugerechnet, befanden sich vorletztes Jahr insgesamt sogar 84.230 in staatlicher Obhut. Konkret bedeutet dies: Alle fünfzehn Minuten wird ein Kind in Obhut genommen und in ein Heim oder einer Pflegefamilie gebracht. Das Jugendamt hat die Pflicht, das Kind in Sicherheit zu bringen, wenn in seiner Familie von einer Gefährdung des Kindeswohles ausgegangen wird.</p><p>Als häufigster Grund zur Inobhutnahme wird seitens des Jugendamtes Überforderung der Eltern genannt. Diese kann verschiedene Ursachen haben und sich unterschiedlich äußern. Mitarbeiter des Jugendamtes begründen die steigende Zahl der Inobhutnahmen mit einer Zunahme von Suchtproblemen auf Seiten der Eltern, aber auch damit, dass etwa Nachbarn und Lehrer heutzutage glücklicherweise aufmerksamer auf mögliche Kindeswohlgefährdungen reagieren und weniger wegschauen.</p><p>Aber sind Familien deswegen seit 1995 wirklich doppelt so „unsicher“ geworden? Und ist die Inobhutnahme eines Kindes wirklich in jedem Fall gut für das Kind oder durch das Verhalten der Eltern gerechtfertigt?</p><p>Statt von einer wesentlichen Zunahme an innerfamiliären Missständen geht die Linken-Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus von einer höheren Bereitschaft des Jugendamtes aus, überforderten Eltern das Sorgerecht ganz- oder teilweise zu entziehen, statt bei Erziehungsproblemen erstmal helfend beizustehen.</p><p>Der familienpolitische Sprecher der CDU, Markus Weinberg, ist in diesem Fall ähnlicher Meinung und klagt über „viele Fälle von nicht nachvollziehbaren Inobhutnahmen“ und Sorgerechtsentzügen. Zu viele Kinder würden auf Grund von Fehlurteilen aus ihren Familien genommen, was zu großem Leid bei den Betroffenen Eltern und Angehörigen und besonders auf Seiten des Kindes führe. Weinberg berichtet von Kindern und Jugendlichen, die erzählen, dass ihre Wünsche, wo sie leben wollen, in Familiengerichts- oder Jugendamtsverfahren übergangen wurden. Deswegen fordert er eine Prüfung durch eine unabhängige Kommission, die auch anhand der Erfahrungsberichte von betroffenen Eltern, Kindern und Betreuern auswerten soll, ob dem drastischen Anstieg an Inobhutnahmen tatsächlich eine Zunahme der Kindeswohlgefährdung in den Familien oder eine übersteigerte Wachsamkeit und Absenkung der Eingriffsschwelle seitens der Behörden zugrunde liege.</p><p>Was die Ursache von Fehlentscheidungen beim Sorgerechtsentzug angeht, vermutet Weinberg vor allem strukturell- und systembedingte Probleme.</p><p>Eine in diesem Jahr veröffentlichte repräsentative Studie der Politologin und Sozialwissenschaftlerin Kathinka Beckmann der Universität Koblenz scheint dies zu bestätigen. Die Befragung von 625 Jugendamtsmitarbeitern ergab, dass es den deutschen Jugendämtern an 16000 Stellen und finanziellen Mitteln mangelt, weswegen Entscheidungen häufig nach finanziellen statt pädagogischen Gesichtspunkten gefällt würden. Die Sozialarbeiter, welche unter anderem für die Inobhutnahme zuständig sind, leiden unter Zeit- und Geldmangel und Überlastung, unter anderem, weil sie wesentlich mehr Familien betreuen müssen, teilweise dreimal so viele, wie die empfohlenen 35, vor allem aber, weil mit der Möglichkeit der Inobhutnahme eine große Verantwortung auf ihnen lastet.</p><p>Dennoch dürfen die personellen und finanziellen Engpässe des Jugendamtes nicht als Entschuldigung dafür genommen werden, wenn durch eine Fehlentscheidung das Wohlbefinden eines Kindes oder einer Familie Schaden nimmt. Sicherlich gibt es gerechtfertigte Fälle, in denen ein Kind für sein Wohlergehen in Obhut genommen werden muss, bevor schlimmeres geschieht, andererseits sollten die Schäden einer ungerechtfertigten Inobhutnahme niemals unterschätzt werden.</p><p>Quellen:Hummel, Katrin, Im Zweifel lieber wegnehmen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt 2018.O.A., Nehmen Jugendämter und Gerichte zu vielen Familien die Kinder weg? In: <a href="http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kritik-an-immer-mehr-inobhutnahmen-durch-jugendamt-15202550.html">http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kritik-an-immer-mehr-inobhutnahmen-durch-jugendamt-15202550.html</a>, Frankfurt 2018.Janson, Matthias, So oft nehmen Jugendämter Kinder in Obhut, <a href="https://de.statista.com/infografik/13828/anzahl-der-inobhutnahmen-minderjaehriger-durch-jugendaemter-in-deutschland/">https://de.statista.com/infografik/13828/anzahl-der-inobhutnahmen-minderjaehriger-durch-jugendaemter-in-deutschland/</a>, o.O. 2018.</p><p>Foto: <a href="https://de.freepik.com/fotos-kostenlos/trauriger-jugendlicher-mit-kariertes-hemd-weinen_931652.htm">https://de.freepik.com/fotos-kostenlos/trauriger-jugendlicher-mit-kariertes-hemd-weinen_931652.htm</a></p>