Johannes Paul II.: Papst zweier Epochen
Mathias von GersdorffJohannes Paul II. war 26 Jahre und 5 Monate Papst, bereiste fast die ganze Welt, schrieb 14 Enzykliken und eine Vielzahl weiterer Kirchendokumente und wirkte in einer Zeit, die aus mehreren Gründen als eine Zeit des Umbruches bezeichnet werden kann. Infolgedessen hat sich das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihm macht, immer wieder gewandelt.
Als Karol Józef Wojtyla nämlich 1978 im Konklave gewählt wurde, war er der Papst, der aus Polen kam, also ein damals noch kommunistisches Land, das sich in der Einflußsphäre der Sowjetunion befand. 1978 war die Bedrohung der Kirche und des Glaubens durch den atheistischen Kommunismus sehr stark. Man muß sich ja nur an den Vietnamkrieg, an Kambodscha, an Mozambique und andere Länder, die damals kommunistisch wurden, erinnern. Aber auch in Europa war die Bedrohung immens, man lebte in ständiger Perspektive eines Atomkrieges. Und dann wird aus eben dieser Welthälfte ein Papst gewählt, der erste Nichtitaliener nach Jahrhunderten. Das war eine Sensation!
Doch der Kommunismus war nicht die einzige Bedrohung für den Glauben und für die Kirche. Im Westen triumphierte damals eine Mentalität, die ganz geprägt war von den Ideen der sogenannten 1968er-Bewegung. Das waren linksgerichtete Bewegungen, die überall im Westen – von den Vereinigten Staaten bis nach Deutschland – entstanden und dezidiert antibürgerlich, antireligiös und antifamiliär waren. Damals wurde beispielsweise die „Sexuelle Revolution“ populär, die gegen Ehe, Familie und Sexualmoral rebelliert. Damals entstanden die politischen Strömungen, die später zur Legalisierung der Abtreibung, der Einführung von absurden Institutionen wie die „Homo-Ehe“, die Liberalisierung der Pornographie, die Erleichterung von Scheidungen usw. führen würden.
Nun, Karol Wojtyla wurde zu einem Zeitpunkt gewählt, als diese Angriffe auf Sitte und Moral galoppierend voranschritten. Man denke bloß an die Abtreibung: Mitte der 1970er Jahre wurde sie in vielen Ländern freigegeben, 1973 in den Vereinigten Staaten, 1974 in der Bundesrepublik Deutschland.
Kommunistische Bedrohung und eine in der Geschichte noch nie gesehene moralische Dekadenz. Dieser Welt, die sich in einem geradezu apokalyptischen Zustand befand, richtete der neue Papst aus Polen am Anfang seines Pontifikats die Worte: „Der Erlöser des Menschen, Jesus Christus, ist die Mitte des Kosmos´ und der Geschichte. Zu ihm wenden sich mein Denken und Fühlen in dieser feierlichen geschichtlichen Stunde, die die Kirche und die ganze Menschheitsfamilie heute durchleben“ (Enzyklika Redemptor hominis Nr. 1).
Zwölf Jahre danach wurde der Kommunismus besiegt, aber 32 Jahre später geht die Zerstörung von Ehe und Moral weiter, und es ist kein Ende abzusehen. Der Einsatz von Papst Johannes Paul II. für das Leben, für die verantwortliche Elternschaft, für die Moral gewinnt mit der zeitlichen Perspektive mehr an Gewicht.
An dieser Stelle ist es wichtig, anzumerken, daß sich Kardinal Karol Wojtyla intensiv bei der Redaktion der Enzyklika Humanae Vitae (1968) von Papst Paul VI. eingesetzt hat. Ihm und einigen anderen Kardinälen ist es zu verdanken, daß Humanae Vitae in der Tradition von Casti connubi (1930) von Pius XI. steht. Er selber schrieb dann später im Jahr 1995 die großartige Enzyklika „Evangelium Vitae“. Dort steht: „Es kann in der Tat keine echte Demokratie geben, wenn nicht die Würde jeder Person anerkannt wird und seine Rechte nicht respektiert werden. Und es kann auch keinen wahren Frieden geben, wenn man nicht das Leben verteidigt und fördert.“ Hier wird deutlich, daß für Papst Johannes Paul II. Kommunismus und Abtreibung vom selben Geist des Bösen beseelt sind – dieser führt zur „Kultur des Todes“, ein Begriff, den er eingeführt hat und der heute mittlerweile gängig ist.
Casti connubi, Humanae Vitae und Evangelium Vitae stehen in einer Tradition, wie etwa Rerum Novarum (Leo XIII., 1891), Quadragesimo Anno (Pius XI., 1931) und Centesimus Annus (1991).
Eine Aufteilung der historischen Rolle dieses Papstes im Zeitalter der Konfrontation von Kapitalismus und Kommunismus einerseits und Dekadenz von Ehe und Moral andererseits darf aber nicht überstrapaziert werden. Johannes Paul II. fühlte, daß sich die Menschheit in einer Art Zeitenwende befand und trotz der negativen Signale blieb er optimistisch und erwartete ein neues Zeitalter. In Redempor hominis schrieb er: „Wir befinden uns in gewisser Weise in der Zeit eines neuen Advents, in einer Zeit der Erwartung.“ Dieses Bild ist sehr aussagekräftig, sehr kräftig. Die Wochen vor der Geburt Christi sind nämlich für den Gläubigen in der Tat eine Zeit der Erwartung, aber auch eine Zeit der Dunkelheit, ja, der Finsternis. Der Optimismus von Papst Johannes Paul II. übersah nicht die Krise, in der sich die Menschheit befand (und befindet) und aus eben diesem Grund ruft er während seines Pontifikats immer wieder zur Umkehr, einer Umkehr der Menschen und einer Umkehr der Nationen, auf. Ansonsten würde eine Katastrophe folgen.
So sagte er am 3. Mai 1987 in München anläßlich der Seligsprechung des Jesuitenpaters Rupert Mayer, ein bekannter Gegner der Nationalsozialisten: „Wir hören heute viel von Menschenrechten. In sehr vielen Ländern werden sie verletzt. Von Gottesrechten aber spricht man nicht. Und doch gehören Menschenrechte und Gottesrechte zusammen. Wo Gott und sein Gesetz nicht beachtet werden, erhält auch der Mensch nicht sein Recht.“ Hier spricht ein realistischer Mensch, jemand, der klar erkennt, daß sich die Menschheit auf dem falschen Pfad befindet.
In „Centesimus Annus“ schrieb er: „Eine Demokratie ohne Werte verwandelt sich, wie die Geschichte beweist, leicht in einen offenen oder hinterhältigen Totalitarismus.“ Dies ist eine Mahnung! Eine Mahnung von jemand, der die Realität nicht aufgrund von einer oberflächlichen Stimmung beurteilt, sondern aufgrund der Lebenserfahrung und der Kenntnis der Geschichte. Diese Mahnung richtet sich an die Menschen, die das Töten ungeborener Kinder zulassen, die die Familie schwächen, die die Unmoral mit ungerechten Gesetzen unterstützen.
Im Jahr 1996, als in Frankreich die Debatte um den sog. „Pacte civil de solidarité“ – ein gewaltiger Angriff auf die Familie und im Grunde genommen die Einführung einer Partnerschaft für Homosexuelle -, geführt wurde, sprach er deutliche Worte an französische Parlamentarier: „Eine positive Gesetzgebung darf nicht unabhängig von der Achtung vor dem Naturgesetz und vor den Grundwerten errichtet werden.“
Diese kleine Auswahl von Zitaten macht deutlich, daß für Papst Johannes Paul II. die Krise der Werte das wichtigste Anliegen seines Pontifikats war. Diese Krise ist aber eine Krise, die ihren Ursprung im Menschen selbst hat und sich vom Einzelmenschen an die Gesellschaft überträgt. Leider erfuhr das Apostolische Schreiben „Reconciliatio et Paenitentia“ aus dem Jahr 1984 nicht die Aufmerksamkeit, die es verdiente. Der Papst beschreibt hier die Wurzel der Krise der modernen Welt: „Das Sündenbewußtsein schwindet ... durch eine Ethik, die die moralische Norm relativiert und ihren absoluten, unbedingten Wert leugnet und folglich bestreitet, daß es Akte geben kann, die in sich unerlaubt sind, unabhängig von den Umständen, unter denen der Handelnde sie tut.“ Ein Mensch ohne Sündenbewußtsein ist zu allem fähig, was notwendigerweise zu einer „Kultur des Todes“ und zu einer „Diktatur des Relativismus“ führt, wie sie von seinem Nachfolger, Papst Benedikt XVI., beschrieben wird.
Ein wesentlicher Beitrag zum Verfall der Werte waren für diesen Papst viele Medien, die mit geradezu satanischer Akribie und Hartnäckigkeit die Unschuld der Kinder zu zerstören versuchen: „Fasziniert von der Welt und den Erwachsenen schutzlos ausgeliefert, sind Kinder von Natur aus bereit, alles anzunehmen, was ihnen angeboten wird, mag dies nun gut oder schlecht sein. Das wißt Ihr, die Ihr hauptberuflich im Kommunikationsbereich arbeitet, besonders aber Ihr, die Ihr bei den audiovisuellen Medien beschäftigt seid, nur zu gut“ (Botschaft zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel vom 23. Mai 1979). Jede Person, die in Medien arbeitet, die Kinder zu Erotik, zu Pornographie und sonstige Unmoral verführen, sollte zittern, wenn sie diese mahnenden Worte hört.
Aufgrund dieser Erwägungen ist möglicherweise die Enzyklika, die am besten das Wirken von Papst Johannes Paul II. zusammenfaßt, „Veritatis Splendor“. In dieser beschreibt er scharf den moralischen Relativismus als das Grundübel unserer Zeit, ein Relativismus, der den hochmütigen Menschen zu einem wahren Turmbau zu Babel verführt, was notwendigerweise in einer Katastrophe enden muß. So schreibt er dort: „So ist man in manchen modernen Denkströmungen so weit gegangen, die Freiheit derart zu verherrlichen, daß man sie zu einem Absolutum machte, das die Quelle aller Werte wäre. In diese Richtung bewegen sich Lehren, die jeden Sinn für die Transzendenz verloren haben oder aber ausdrücklich atheistisch sind. Dem Gewissen des Einzelnen werden die Vorrechte einer obersten Instanz des sittlichen Urteils zugeschrieben, die kategorisch und unfehlbar über Gut und Böse entscheidet. ... Diese Sicht ist nichts anderes als eine individualistische Ethik, aufgrund welcher sich jeder mit seiner Wahrheit, die von der Wahrheit der anderen verschieden ist, konfrontiert sieht“ (Nummer 32).
Aber das Problem unserer Zeit ist nicht bloß ein philosophisches, nein, die Gründe liegen viel tiefer, und zwar in der fast schrankenlosen Hingabe des modernen Menschen an seine Neigung zur Sünde: „In der Folge der geheimnisvollen Ursünde, begangen auf Anstiftung Satans, der „ein Lügner und der Vater der Lüge ist“ (Joh. 8,44), ist der Mensch immerfort versucht, seinen Blick vom lebendigen und wahren Gott ab- und den Götzen zuzuwenden (1. Thess. 1,9); damit auch seine Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, beeinträchtigt und sein Wille, sich ihr zu unterwerfen, geschwächt wird. Und so geht er, während er sich dem Relativismus und dem Skeptizismus überläßt (vgl. Joh. 18,38), auf die Suche nach einer trügerischen Freiheit außerhalb dieser Wahrheit“ (Nummer 1).
Ein abschließendes Urteil über das Wirken dieses Papstes ist noch nicht möglich. Zu sehr befinden wir uns noch in der Krise, die er in seinen vielen Dokumenten beschreibt, zu zeitlich nah ist sein Ableben. Doch jeder gläubige Mensch sollte seine Worte aus „Redemptoris Missio“ im Herzen tragen, die uns aufrufen, in der Hoffnung zu leben, auch dann, wenn nichts dafür spricht: „Ich sehe ein neues Missionszeitalter heraufdämmern, das zu einem hellen Tag, reich an Früchten, werden wird, wenn alle Christen, besonders die Missionare und die jungen Kirchen, mit Hochherzigkeit und Heiligkeit auf die Appelle und Herausforderungen unserer Zeit antworten.“