Gutachten „Kinderrechte ins Grundgesetz?“ der Christlich-Demokratischen Juristen
Erstellt vom Bundesarbeitskreis Christlich-Demokratischer Juristen (BACDJ)
Erstveröffentlichung des Textes durch „Die Tagespost“ in der Print-Ausgabe vom 7. November 2019.
Mit der Einführung von Kinderrechten wird ein rechtspolitisches Projekt diskutiert, dessen Langzeitfolgen unabsehbar sind. Ein Bedürfnis für seine Realisierung besteht nicht, weil das Grundgesetz Kindern bereits heute einen umfassenden Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Verfassungsgeber droht ohne Not tradierte verfassungsrechtliche Pfade im Verhältnis von Eltern, Kindern und Staat zu verlassen und das Elternrecht einer schwächenden Neubewertung durch das Bundesverfassungsrecht preiszugeben.
Im Detail: Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD begründet das Vorhaben wie folgt: „Kinder sind Grundrechtsträger, ihre Rechte haben für uns Verfassungsrang.“ Diese Feststellung beschreibt zwar in zutreffender Weise die geltende Rechtslage, taugt aber gerade deshalb nicht als Begründung für das Erfordernis einer Verfassungsänderung. Vielmehr sind Kinder kraft ihres Menschseins unter der Geltung des Grundgesetzes bereits heute selbstverständliche Träger der Grundrechte.
Die Grundrechte des Grundgesetzes stehen bereits heute auch Kindern zu. Daher besteht im Bereich der Kinderrechte keine verfassungsrechtliche Schutzlücke. Als Grundrechtsträger partizipieren Kinder selbstverständlich an allen grundrechtlichen Gewährleistungen – vom grundgesetzlichen Würdeschutz über das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit bis hin zum Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Auch das Bundesverfassungsgericht bejaht in seiner Rechtsprechung die Grundrechtsträgerschaft von Kindern. Bereits vor einem halben Jahrhundert hat es festgehalten, dass ein Kind nach geltendem Verfassungsrecht „ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit“ ist (BVerfGE 24, 119 [144]). Hieran hat das Gericht bis heute konsequent festgehalten. U.a. hat es im Jahre 2008 erneut hervorgehoben, dass ein Kind „eigene Würde und eigene Rechte“ hat, dass es „Rechtssubjekt und Grundrechtsträger“ ist (BVerfGE 121, 69 [92 f.]).
Kinder verfügen entgegen mancher Behauptung verfassungsrechtlich bereits heute über eine Subjektstellung, das Grundgesetz behandelt sie nicht als Objekt. Der gelegentlich erhobene Vorwurf, Art. 6 GG vermittle Kindern keine subjektive Rechtsposition, sondern behandle sie lediglich als Objekt des elterlichen Erziehungsauftrages und des staatlichen Wächteramtes, wird durch einen Blick auf die verfassungsgerichtliche Judikatur wiederlegt. Das BVerfG entnimmt Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur ein „Recht auf staatliche Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung“ sondern auch den Schutz davor, „durch staatliche Maßnahmen von der spezifisch elterlichen Hinwendung abgeschnitten zu werden“ (BVerfGE 135, 48 [84 f.]).
Das Grundgesetz schützt Kinder bereits heute vor elterlichem Versagen und familiärer Gewalt. Es betrachtet ihre Pflege und Erziehung nicht nur als das natürliche Recht der Eltern, sondern auch als „die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. Für die Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts ist das Kindeswohl die „oberste Richtschnur“, über dessen eventuelle Gefährdung der Staat wacht. Werden Eltern ihrem Erziehungsauftrag nicht gerecht und wird dadurch das Kindeswohl schwerwiegend beeinträchtigt, berechtigt das staatliche Wächteramt i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG den Staat nicht nur zu einer Intervention, sondern verpflichtet ihn hierzu auch.
Daher gilt: Der Schutz der Rechte der Kinder ist schon heute eine grundgesetzlich verbürgte Pflichtaufgabe des Staates. Freilich kommt es darauf an, dass der Staat dieser Aufgabe auch tatsächlich nachkommt und seiner Verantwortung gerecht wird, beispielsweise dadurch, dass er in ausreichender Zahl qualifizierte Mitarbeiter in den Jugendämtern vorhält oder bei Bedarf geeignete Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls ergreift. Besondere Kinderrechte im Grundgesetz können zu einer Erfüllung dieser Aufgabe nichts beitragen, da sie einen Akt symbolischer Konstitutionalisierung darstellen, ohne sich für die Lösung konkreter Probleme im Einzelfall zu eignen.
Die Positivierung von Kinderrechten wird in vorhersehbarer Weise dazu führen, das Elternrecht zugunsten des staatlichen Bestimmungsrechts zurückzudrängen. Weil das Grundgesetz bislang – zu Recht – davon ausgeht, dass das Kindeswohl im Regelfall bei den Eltern in den besten Händen ist, kann das Elternrecht nur bei einer ernsthaften Beeinträchtigung des Kindeswohls zurückgedrängt werden. Insbesondere gestattet Art. 6 GG bisher kein staatliches Tätigwerden, um entgegen dem Elternwillen für eine vermeintlich optimale Entwicklung des Kindes zu sorgen. Im Falle der Aufnahme ausdrücklicher Kinderrechte in das Grundgesetz droht sich genau dies zu ändern. Neu positivierte Kinderrechte haben daher das Potential, unter Berufung auf ihren Schutz Entscheidungsbefugnisse, die bisher den Eltern vorbehalten sind, auf den Staat zu verlagern.
Die grundgesetzliche Positivierung expliziter Kinderrechte gibt das Elternrecht einer schwächenden Neubewertung durch das Bundesverfassungsrecht preis. Ein veränderter Verfassungstext wird in vorhersehbarer Weise dazu führen, dass die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zulasten des Elternrechts geändert wird: Denn dass auf der einen Seite das Erfordernis einer Verfassungsergänzung postuliert wird, mit einer solchen Ergänzung auf der anderen Seite aber keine Modifikation der Verfassungsrechtslage verbunden sein soll, erscheint wenig plausibel. Daher gilt: Wer geändertes Verfassungsrecht säht, wird eine geänderte Verfassungsrechtsprechung ernten.
Sollte eine Verfassungsänderung allein mit der Intention erfolgen, die bestehende Rechtslage ausdrücklich im Verfassungstext festzuschreiben, kann nicht verlässlich gesichert werden, dass diese Intention realisiert werden kann. Der bloße Symbolcharakter der Änderung müsste sich zumindest deutlich im Text der Verfassung (und nicht nur im Text der Begründung) niederschlagen, beispielsweise durch den dezidierten Hinweis, dass die neu eingeführten Kinderrechte „das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG unberührt lassen“. Ob eine solche Formulierung einen verlässlichen Schutz vor grundlegenden Veränderungen der Rechtsprechung zum Elternrecht bietet, ist gleichwohl zu bezweifeln, weil es für das Bundesverfassungsgericht trotz einer derartigen Formulierung kaum überzeugend sein dürfte, dass sich eine Änderung des Verfassungstextes nicht auf den materiellen Gehalt der Verfassung auswirken soll.
Die Notwendigkeit einer expliziten Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz ergibt sich auch nicht aus völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik, namentlich der UN-Kinderechtskonvention (KRK). Es ist zwar zutreffend, dass die KRK in Deutschland im Rang eines „bloßen“ einfachen Bundesgesetzes gilt. Weder die Konvention selbst noch ein sonstiger Grundsatz verpflichten die Bundesrepublik Deutschland jedoch dazu, Teile dieses völkerrechtlichen Vertrages in das Grundgesetz zu übernehmen.
Die unmittelbar anwendbaren Vorschriften der Konvention, wie bspw. Die Vorrangklausel aus Art. 3 KRK, die die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatlichen Entscheidungen verlangt, strahlen zudem über den Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung auch auf das Grundgesetz aus. Dass der Gewährleistungsgehalt völkerrechtlicher Normen bei der Auslegung des Grundgesetzes zu beachten ist, entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Es besteht daher in verfassungsrechtlicher Hinsicht kein Handlungsbedarf.
Mit der Aufnahme von Kinderrechten würde systemwidrig ein Sondergrundrecht geschaffen. Das Grundgesetz kennt grundsätzlich keine speziellen Grundrechte für einzelne Teile der Gesellschaft – weder für Junge noch für Alte, weder für Gesunde noch für Behinderte. Die Einführung von Kinderrechten würde ein Einfallstor für zukünftige verfassungspolitische Forderungen nach weiteren Sondergrundrechten darstellen.