Gegen den europäischen Bürgerwillen zum Embryonenschutz: EU-Parlament besteht auf Grundrecht für Abtreibung
Kein Respekt für EuGH/Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) riskiert Zukunft
Als Trotzreaktion auf den überraschenden Erfolg der Europäischen Bürgerinitiative "1-von-uns" plant das Europäische Parlament, eine Entschließung zur Förderung von Abtreibung zu verabschieden (A7-0306/2013). Damit neutralisieren die Straßburger EU-Volksvertreter unter dem Vorsitz des Deutschen Martin Schulz (SPD) politisch das überraschend gute Abschneiden der Europäischen Bürgerinitiative zum Lebensrechtsschutz. Parlamentspräsident Martin Schulz riskiert mithin auch seine eigene berufliche Zukunft als sozialdemokratischer Spitzenkandidat bei den EU-Wahlen und als möglicher Kommissionspräsident. Die Abstimmung soll am 22. Oktober im Plenum in Strasbourg stattfinden, noch eine Woche vor dem Ablauf der bislang erfolgreichsten Bürgerinitiative zum Lebensrechtsschutz in der Geschichte der EU.
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs entschied höchstrichterlich im Fall C-34/10 "Brüstle c. Greenpeace", dass der Mensch ab der Befruchtung ein Mensch ist und dass der menschliche Embryo ein präzises Stadium in der Entwicklung des menschlichen Körpers darstellt, weswegen die Menschenwürde des Embryos durch europäische und internationale Rechtsinstrumente geschützt ist.
Die Europäische Bürgerinitiative 1-von-uns hat zum Ziel, dieses Grundsatzurteil in allen Politikbereichen umzusetzen, bei denen das Leben und die Menschenwürde des menschlichen Embryos auf dem Spiel stehen: Stammzellforschung, Abtreibung, "Reproduktionsgesundheit". Die EU-Kommission, politisch und juristisch für die Prüfung aller Europäischen Bürgerinitiativen verantwortlich, genehmigte dieses Anliegen. Bis heute unterstützten fast 1.3 Millionen Bürger in 14 Mitgliedsstaaten den Embryonenschutz.
Weil Abtreibung auf allen politischen Entscheidungsebenen umstritten ist, wurde der neutrale Begriff "sexuelle und reproduktive Gesundheit und damit verbundenen Rechte" eingeführt. Bei dieser inklusiven Definition überdecken sich die Begriffe wie bei einer russischen Matrioschka: Reproduktionsgesundheit beinhaltet Fruchtbarkeitsregulierung, und Fruchtbarkeitsregulierung wiederum beinhaltet Schwangerschaftsabbruch. Diese Schachteldefinition erlaubt, Abtreibung zu politisch zu fördern und mit Steuergeldern zu finanzieren, ohne das politische Un-Wort zu erwähnen.
Mit der Entschließungsvorlage über sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte nehmen die Europa-Parlamentarier eine Vertragsverletzung gegenüber den Mitgliedsstaaten in Kauf. Die Straßburger EU-Vertreter addieren jedoch verschiedene EU-Politikbereiche aneinander und erschaffen sich somit eine künstliche Handlungsgrundlage: Vollzuständigkeiten bei der Außenpolitik und der Entwicklungshilfe, den Freizügigkeitsregeln für Bürger und Dienstleistungen, der Durchsetzung von EU-Rechtsvorschriften, den Grundrechten und den Antidiskriminierungregeln, beim Minderheitenschutz und beim Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedsstaaten, sowie Teilzuständigkeiten im öffentliche Gesundheitswesen und im Bildungswesen. Die in der EU-Grundrechtecharta garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Gewissensverweigerung, die darauf beruht, werden hingegen ausdrücklich als Hindernis erkannt. Der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Junker, langjähriger Vorsitzender der Euro-Gruppe, bezeichnete dieses Prinzip mit den Worten: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."
Der 40 Seiten lange "Bericht A7-0306/2013 über sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte (2013/2040(INI))" geht von der Erwägungen aus, dass der Widerstand gegen Abtreibung in Europa und weltweit zugenommen hat und dass der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch noch in drei Mitgliedstaaten (Irland, Malta und Polen) verboten ist. In anderen Mitgliedstaaten sei Schwangerschaftsabbruch zwar weiterhin erlaubt, werde jedoch durch "Hindernisse, wie die missbräuchlichen Inanspruchnahme der Verweigerung aus Gewissensgründen des medizinischen Personals", obligatorischer Wartefristen und "voreingenommener Beratung" immer schwerer zugänglich. Es bestünde die Gefahr, den Zugang zu Abtreibungs-Diensten einzuschränken. Dabei greift das EP die Konkordate scharf an, denn Abtreibung sei ein "Grundrecht, das nicht aus religiösen Gründen, beispielsweise durch den Abschluss von Konkordaten, beschnitten werden sollte".
Daher fordert das EP die Mitgliedstaaten auf, den Zugang zu Abtreibung durch einen "rechtsbasierten Ansatz ohne Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit, der Wohnsituation, des Migrationsstatus, des Alters, einer Behinderung, der sexuellen Orientierung, der Geschlechtsidentität, der Gesundheit oder des Familienstands" sicherzustellen. Das bedeutet im Klartext ein allgemeines Grundrecht auf Abtreibung in der EU.
Das Europäische Parlament fordert zudem eine Bestands- und Finanzierungsgarantie für Abtreibungsorganisationen. Hauptforderung des EU-Parlaments ist jedoch die EU-weite Legalisierung von Abtreibung als Notwendigkeit des Menschenrechts: "Das EU-Parlament empfiehlt, dass aus Erwägungen der Menschenrechte und der öffentlichen Gesundheit hochwertige Dienste im Bereich des Schwangerschaftsabbruches innerhalb der Systeme der öffentlichen Gesundheit der Mitgliedstaaten legal, sicher und für alle Menschen zugänglich gemacht werden sollten, einschließlich Frauen, die keinen Wohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat haben und diese Dienste häufig in andern Ländern in Anspruch nehmen, weil die Gesetze über den Schwangerschaftsabbruch in ihrem Herkunftsland restriktiv sind, um illegale Schwangerschaftsabbrüche, die ein erhebliches Risiko für die physische und psychische Gesundheit der Frauen darstellen, zu vermeiden."
Darüber hinaus sieht der Entschließungsantrag vor, alleinstehenden und lesbischen Frauen Zugang zu Fertilitätsbehandlungen und künstlicher Befruchtung zu gewähren, Sterilisierung trotz Geschlechtsumwandlung zu verbieten und das ganz allgemein das „Fruchtbarkeitsbewusstsein“ zu fördern. Die Volksvertreter stellen offen die Inanspruchnahme des Grundrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit für das medizinische Personal in Frage und fordern dessen Regulierung „durch geeignete Maßnahmen“.
Das Europäische Parlament fordert die obligatorische Sexualerziehung für alle Schüler der Grund- und Sekundarschulen in einer tabufreien und interaktiven Atmosphäre, diskriminierungsfrei und ohne elterliche Zustimmung. Angesichts der aktuellen Pädophilie-Debatte müssen Eltern aufhorchen: Wie soll denn ein tabufreier und interaktiver Sexualkundeunterricht zwischen Lehrer und Schülern in der Grund- und Sekundarschule ohne das Einverständnis der Eltern ablaufen? Bemerkenswert ist auch hier die Modifizierung der Rechtsgrundlage, um eine EU-Zuständigkeit herbeizuführen. Bildungspolitik fällt in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Für das EP wird Sexualkunde zur jugendgerechten "Dienstleistung". Dienstleistungsfreizügigkeit ist wiederum einer der Grundpfeiler des EU-Binnenmarktes. Diese stufenweise Umwidmung der Sexualerziehung aus dem Bildungsbereich in den Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens unter dem Vorwand der Dienstleistungsfreizügigkeit erlaubt also, dass die EU diesen sensiblen EU Politikbereich bearbeitet - ohne das Einverständnis der Eltern.
Bei der Abstimmung im federführenden Frauenausschuss wurden zahlreiche Änderungsanträge abgelehnt, die von den deutschen Abgeordneten Bernd Posselt, Martin Kastler, Peter Liese, Christa Klaß, Angelika Niebler und der Slowakin Anna Záborská eingereicht wurden. Diese Änderungsanträge zielten vor allem auf die Einhaltung des Rechts und den institutionellen Zuständigkeiten in diesem Politikbereich. Der Bericht wurde nur von 17 Mitgliedern angenommen, bei 7 Gegenstimmen und 7 Enthaltungen sowie zwei nicht mitstimmenden Mitgliedern. Die Slowakin Anna Záborská, Leiterin der Arbeitsgruppe Familienpolitik des EP und frühere Vorsitzende des Frauenausschuss', gab zudem eine "Minderheitenmeinung" ab, ein nur in besonderen Ausnahmefällen angewandtes parlamentarisches Instrument. Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass diese Entschließungsvorlage nicht konsensfähig ist.
Dass sie dennoch im Eilverfahren durch das Plenum gebracht werden soll, ist eine Entscheidung der Verwaltungsbeamten. Die gewählten Volksvertreter entscheiden erst in der Woche vor dem Plenum über den Entwurf der Tagesordnung. Die christdemokratische Europäische Volkspartei (zu der CDU, CSU und ÖVP gehören) wird das Thema in ihrer Fraktionssitzung am 16. Oktober beraten. Doch schon jetzt ist bekannt, dass die EVP in einem ihrer ureigenen politischen Anliegen, wie dem Lebensrechtsschutz, tief gespalten ist. So ergab eine namentliche Abstimmung zum Bericht "Genderzid - Die fehlenden Frauen" vor kurzem, dass die Europäischen Christdemokraten den Schutz des menschlichen Lebens als politische Aufgabe nicht ernst nehmen und den Abgeordneten eine „freie Abstimmung“ überlassen, selbst wenn die Positionen eindeutig im politischen Grundsatzprogramm festgeschrieben sind und zu den politischen Fundamenten der EVP gehören.
Aber auch Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) riskiert mit dieser Entschließung seine berufliche Zukunft in Brüssel. Seine Position erlaubt es ihm, Konsens zu schaffen und die Vertagung der Abstimmung herbeizuführen. Andernfalls wäre sein Name damit verbunden, dass das EU-Parlament die Europäischen Bürgerinitiativen doch nicht ernst nimmt und die europäische Integration ein lobbygesteuertes Elitenprojekt bleibt. Parlamentspräsident Martin Schulz hätte dann das Instrument der europäischen Bürgerbegeisterung schon in seiner Anfangsphase desavouiert. Die Verantwortung dafür trüge Martin Schulz, und die Europakritiker werden ihm das ewig anlasten.
Gemeinsam mit Schulz entscheiden die Fraktionsvorsitzenden am Donnerstag, dem 17. Oktober in Brüssel über den Entwurf der Tagesordnung. Bei der Annahme der Tagesordnung am Montag, 21. Oktober, durch das Plenum in Strasbourg können die Abgeordneten den Entwurf der Tagesordnung noch einmal verändern und den Bericht von der Tagesordnung stimmen. Bis dahin haben alle Unterstützer der Europäischen Bürgerinitiative 1-von-uns Gelegenheit, sich fraktionsübergreifend an alle Europa-Parlamentarier zu wenden mit der Bitte, den Bericht A7-0306/2013 zur Neuberatung in den Frauen-Ausschuss zurückzuverweisen oder eine Verschiebung der Abstimmung durchzusetzen. Sollte das nicht gelingen, müssen die MdEP am Dienstag, 22. Oktober, in namentlicher Abstimmung gegen die Vorlage stimmen. Nur so kann das erst durch den Lissabon-Vertrag geschaffene Instrument der Bürgerbeteiligung in der EU langfristig respektiert werden. Die Annahme der Entschließung würde andernfalls nämlich bedeuten, dass jede Europäische Bürgerinitiative durch eine Entschließung der europäischen Volksvertreter ad absurdum geführt werden kann.