Forscher warnen: Viele Kinder in Europa sind chronisch krank
Christiane Jurczik
Die Kindheit ist von zentraler Bedeutung für unser ganzes Leben und sie war noch nie so sehr in Gefahr wie heute. Immer mehr Wissenschaftler, Forscher und Experten schlagen seit Jahren Alarm, weil es den Kindern in westlichen Ländern immer schlechter geht.
Eine der wichtigsten Phasen im Leben eines Menschen ist die Kindheit. Sie bildet das Fundament auf dem wir alles aufbauen können. Ein Kindheitsforscher warnt nun: Unseren Kindern geht es so schlecht wie nie zuvor - und ruft zum Umdenken auf.
In den ersten kostbaren Jahren unseres Lebens werden die Weichen gestellt, die darüber entscheiden, wie wir mit Stress und Herausforderungen umgehen, wie selbstständig wir durchs Leben gehen, welche sozialen Fähigkeiten wir erwerben – aber auch, in welchem Maß wir Glück und Zufriedenheit empfinden können, wie empathisch wir mit uns selbst und mit anderen umgehen und wie viel Nähe wir in Beziehungen und Freundschaften zulassen können.
Kindern geht es so schlecht wie nie zuvor in der Geschichte
Einer der Kindheitsforscher ist Michael Hüter. Der Österreicher hat dem Thema ein ganzes Werk gewidmet. In "Kindheit 6.7 (von 2018) erzählt der Historiker die Geschichte der Kindheit und zeigt anhand von zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass diese so wichtige Lebensphase mehr denn je bedroht ist. Aus Sicht des Forschers muss sich dringend und umgehend die Art und Weise ändern, wie Kinder heute aufwachsen.
Falsches System: "Wenn wir so weitermachen, wie in den letzten 15 Jahren, wird es den Menschen auch ohne Klimakatastrophe und Atomkrieg in 200 Jahren nicht mehr geben", sagte Hüter im Gespräch mit FOCUS Online. "Wir müssen dringend etwas ändern an der Art, wie wir zusammen leben und wie wir mit unseren Kindern umgehen."
Die Liste der Dinge, die sich laut Hüter ändern müssten, ist lang. Angefangen bei dem Bild von Kindern, das in der Gesellschaft verbreitet ist und dem Wert, der heute der Familie als Gemeinschaft zugesprochen wird, müsste die Art der Betreuung von Kindern vom Kleinkindalter bis zum Abitur grundlegend überarbeitet werden.
Jedes 2. Kind ist chronisch krank
Denn, wenn man dem Forscher glaubt, geht es Kindern heute so schlecht wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit: "In Europa leidet inzwischen jedes zweite Kind unter einer chronischen Krankheit. Das gab es in der gesamten Geschichte der Menschheit noch nicht. Bei größtmöglichem medizinischem Fortschritt waren unsere Kinder noch nie so auffallend krank wie heute", sagte Hüter.
Mehr Kinder leiden unter Rückenschmerzen
Rund ein Viertel aller Mädchen und Jungen ab zwölf Jahren haben demnach zeitweise Probleme mit Rückenschmerzen. Dirk Vennekold, Leiter der DAK Landesvertretung Niedersachsen, nennt die Entwicklung alarmierend, weil frühe Beschwerden im Erwachsenenalter zu schweren Rückenleiden führen können.
Jedes 2. Kind leidet an Atemwegserkrankungen
Atemwegserkrankungen kommen demnach am häufigsten vor: Mehr als die Hälfte (54,8 Prozent) aller Jungen und Mädchen leidet laut dem Report mindestens einmal pro Jahr unter einem grippalen Infekt oder einer akuten Bronchitis. Verbreitet seien ebenfalls Infektionskrankheiten, Augenerkrankungen, psychische Leiden und Hauterkrankungen. Auch krankhaftes Übergewicht würde ebenfalls häufig auftreten, teilte die DAK mit.
Deutlich mehr ADHS Fälle
Bei 9,4 Prozent aller Kinder und Jugendlichen sei im Jahr 2016 eine potenziell chronisch verlaufende psychische Erkrankung festgestellt worden. Die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wird in Niedersachsen häufiger dokumentiert als in anderen Bundesländern.
Stadtkinder sind häufiger betroffen
In der Studie fanden die Forscher zudem Anhaltspunkte dafür, dass der Wohnort sich auf die Gesundheit auswirkt: Stadtkinder leiden nach dem Report häufiger an Karies, krankhaftem Übergewicht sowie diagnostizierten Verhaltensstörungen und Depressionen.
Die Gründe sind vielfältig, lassen sich jedoch auf eine zentrale Erkenntnis herunterbrechen: Kinder können sich heute nicht mehr altersgemäß entwickeln, weil ihnen ein kindgerechtes Aufwachsen verwehrt wird.
Mit dieser Meinung steht Hüter nicht alleine da. Eine wachsende Zahl von Psychologen, Soziologen, Ärzten und Neurobiologen zeigt sich besorgt über den gesundheitlichen und psychischen Zustand von Kindern und Jugendlichen.