Etwas stimmt nicht, wenn Familienmahlzeiten still verlaufen
John Horvat II
Nie waren wir so vernetzt und informiert wie heute. Mit ein paar Mausklicks liegt uns eine Welt des Wissens zu Füßen, die alle möglichen Bereiche abdeckt. Wir können bequem und kostengünstig mit anderen Menschen auf der ganzen Welt kommunizieren. Deshalb sollten wir in der Gesprächskultur enorm dazugelernt haben. Alle Voraussetzungen sollten also gegeben sein, um lange, anregende Gespräche über jedes mögliche Thema zu führen. Zumindest scheint es so.
Wir sprechen jedoch nicht mit anderen. Schlimmer noch, es scheint, dass viele Menschen nicht einmal mehr wissen, wie sie miteinander sprechen sollen. Wir sind alle verkabelt und haben nichts zu sagen. Viele haben die Kunst der Konversation verlernt.
Der stille Esstisch
Stockende und sterile Stille beherrscht so viele Haushalte. Dies ist das Ergebnis einer kürzlich in Großbritannien durchgeführten Umfrage zu Familiengewohnheiten. Dieselbe schlechte Gewohnheit ist auch in den USA ziemlich präsent, wahrscheinlich in ähnlichem Ausmaß. Sie ist in unterschiedlichem Maße auch in unserer globalisierten Welt zu finden.
Ein besonders trauriges Ergebnis dieser Umfrage unter 2500 britischen Bürgern ist, dass ein Drittel der Familien die gemeinsamen Mahlzeiten in völliger Stille zu sich nimmt. Weitere drei von zehn Befragten berichten, dass sie Probleme haben, Themen für ein Gespräch beim Essen zu finden.
Natürlich gibt es auch das Problem, die Familienmitglieder dazu zu bringen, ihre Mahlzeiten am selben Ort und zur selben Zeit einzunehmen. Ungefähr vier von zehn Eltern essen im Allgemeinen nicht zusammen mit ihren Kindern. Zehn Prozent der Befragten geben an, als Familie nie gemeinsam zu essen.
Das Zusammenbringen der Familie am Tisch allein löst das Gesprächsproblem jedoch noch nicht. Mehr als jeder fünfte Befragte gibt an, lieber fernzusehen als mit Familienmitgliedern zu sprechen. Unglaubliche 44 Prozent sagen, dass sie während des Essens auf ihre I-Phones starren – eine Praxis, die als „Zombieessen“ bekannt ist. Jeder kennt die Angewohnheit, die Essenszeiten für soziale Medien und SMS zu nutzen.
Eine wahre Krise, die ignoriert wird
Die Ergebnisse der Umfrage sind schockierend, weil sie einen Mangel an Mitmenschlichkeit offenbaren, die für unser Leben so wichtig ist. Die Kunst der Konversation kann nicht an eine App delegiert oder auf dem Bildschirm gefunden werden. Es liegt etwas Vereinnahmendes in der Natur unserer technischen Geräte, das Gespräche unmöglich macht, wenn sie eingeschaltet sind.
Die neuen Technologien haben unser Leben derart verändert, dass sich jeder in seine kleine, sterile Welt zurückziehen kann. Und dies ist eine große Tragödie, die Eltern und Familien beunruhigen sollte. Dies sollte auch unsere Politiker beschäftigen, da die am Tisch erlernten sozialen Kompetenzen die Grundlage der Zivilisation in der Gesellschaft bilden. Und doch scheint dies niemanden zu interessieren.
Gesprächskultur – ein Luxus, den sich auch der Ärmste leisten kann
In der Tat ist das frohe Gefühl des nahen Beisammenseins das Besondere an der Familie. Das Gespräch steht allen Altersgruppen, Berufen und sozialen Umfeldern offen. Man muss nicht reich sein, denn ein gutes Gespräch ist ein Luxus, den sich auch der Ärmste leisten kann.
Neben der britischen Umfrage können wir noch einen weiteren Artikel über Konversation zitieren. Der Autor erörtert die Art der Konversation. Er spricht sogar ein gegenteiliges Problem an – das übermäßige Reden. Damals, im späten neunzehnten Jahrhundert, als dieser Artikel verfasst wurde, bestand das Problem häufig eher in zu viel Konversation als in der sterilen Stille des „zu wenig“ an Gesprächen.
Der vielleicht beeindruckendste Gedanke in dem Artikel ist, dass Konversation gelernt werden muss. Sie verlangt Anstrengung und Selbstdisziplin. Wir sind gefordert, Rücksicht auf andere zu nehmen und nicht einfach alles auszusprechen, was uns in unserer von Twitter dominierten Welt gerade in den Sinn kommt.
„Der vorsichtige Denker und Zuhörer findet in ihr so viel, um seine vorgefassten Meinungen zu mäßigen, so viel, um sie zu korrigieren, und manchmal so viel Grund, sie zu ändern, dass er es nicht eilig damit hat, ihnen in ihrer momentan noch unausgegorenen Form eine Stimme zu verleihen.“
Wir sind gefordert, über wichtige Dinge und nicht über Belanglosigkeiten und nebensächliche (oft langweilige) persönliche Angelegenheiten zu sprechen. Die Begierden und die niederen Instinkte unserer Natur verlangen nach „Befriedigung, vertragen jedoch nicht viel an Diskussion“. In der Tat sollten wir versuchen, etwas zu sagen, das „der Äußerung wert“ ist.
Gleichzeitig muss das Gespräch mit unserem täglichen Leben zu tun haben. Es geht hier nicht um einen Diskurs oder einen Vortrag, sondern darum, wie wir über die Dinge diskutieren, die uns wichtig sind. „Die Sprache liegt in der Mitte zwischen den Begierden, die uns erden, und den inneren Antrieben, die uns in den Himmel erheben.“
Fehlende Gesprächspartner
Gesprächsthemen sind wichtig, aber das ist nicht der größte Mangel. Was heute fehlt, sind jene Gesprächspartner, die zuhören und andere in die Diskussion einbeziehen können. Dies sind Menschen, die Allgemeinbildung und ein gewisses kulturelles Niveau besitzen, die aus einer reichen Geschichte, Literatur und Tradition schöpfen und so das Gespräch interessant und fesselnd machen können.
Der oben zitierte Artikel war ein hervorragendes Beispiel für dieses kulturelle Niveau, diese Allgemeinbildung, die sich einst in dem widerspiegelte, was man das Beherrschen der „freien Künste“ (artes liberales) nannte. Der Autor zitierte Homer und verwies auf Plutarch. Er zitierte die Heilige Schrift und erinnerte an eine Episode aus der Geschichte des alten Rom. Der Verfasser war jedoch nicht unbedingt ein gelehrter Mann seiner Zeit. Der Artikel erschien im Januar 1890 im Locomotive Engineers Journal (Lockführerjournal). Seine Empfehlungen zur Konversation waren an die Arbeiter gerichtet, die die Züge fuhren. Dabei ging er jedoch davon aus, dass die meisten Menschen mit den in seinem Artikel behandelten Themen vertraut sind.
Eine neue Wertschätzung der Muße
Eine Rückkehr zur Konversation setzt viel mehr voraus als nur Lernen, Kultur und Anstand. Im Gegenteil erfordert es eine neue Wertschätzung von Beschaulichkeit, Besinnlichkeit und der wahren Muße, die der heutigen steten Geschäftigkeit so sehr entgegensteht. Die Schnelllebigkeit führt zum Überdruss am Nachdenken. Diese vergleichsweise geistigen Freuden – an Konversation, Kunst und Stille – ziehen eine Welt, die süchtig ist nach Empfindung, Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit, immer weniger an.
Es ist schade, dass die Menschen kein Bedürfnis mehr an diesen geistigen Freuden haben. Wir brauchen sie aber, wenn wir die gestörten Familien von heute heilen wollen, die nicht einmal mehr die Zeit finden, gemeinsam zu essen. Nur in solch einer geistigen Atmosphäre werden Familienmitglieder wieder miteinander reden.
Foto: Norman Rockwell - U.S. National Archives and Records Administration, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16925987