Eltern geben ein Vermögen für ihren Nachwuchs aus – aber was brauchen Kinder wirklich?

Christiane Jurczik

Noch nie haben die Deutschen so viel Geld für ihre Kinder ausgegeben wie heute. Von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr investieren Eltern durchschnittlich 131.256 Euro in ein Kind. Das sind monatlich gut 600 Euro für Wohnen, Essen, Heizen, aber auch für Taschengeld, Klassenfahrt, Handy und Führerschein. Und natürlich für Babyschwimmen, musikalische Früherziehung und Nachhilfelehrer. Hinter diesen Durchschnittszahlen verbirgt sich zudem eine vielschichtige Realität. Ausgerechnet bei den Kindern schlägt die wachsende materielle Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft voll durch. Gut ein Fünftel ihrer Gesamtausgaben verwendet die deutsche Statistik-Familie für ein Einzelkind. Ein Fünftel, das bedeutet für die Ärmsten: 382 Euro für das Lebensnotwendige und Schluss. Die wohlhabendsten zehn Prozent der Familien verwirklichen mit 900 Euro, im Schnitt, ihr Luxusprojekt Kind.

Und alle Familien spüren den ständigen Druck, mehr zu bieten, mehr zu kaufen, mehr zu fördern. "Finanzieller Druck betrifft keineswegs nur Eltern am unteren Rand der Gesellschaft", schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung in der Studie "Eltern unter Druck", "sondern hat die breite Mittelschicht erfasst." Fast, scheint es, hängt das Gelingen eines Kinderlebens nur von seinem Haben ab.

Das Haben-Wollen lernen schon die Kleinsten. Die Märkte haben sie längst als Wirtschaftsfaktor entdeckt. 20 Prozent der Werbung zielt heute auf Kinder. Das wirkt: Bei der Kids-Verbraucheranalyse stimmten fast zwei Drittel der Aussage zu: "Werbung macht es mir leicht, meinen Eltern zu erklären, warum ich Sachen will."
So reden (und quengeln) sie immer öfter mit, wenn es ums Geldausgeben geht: beim Autokauf, bei der Schuhmarke und besonders im Supermarkt. Wikinger, Ritter und Prinzessinnen winken von so ziemlich allem, was sonst einfach nur Keks oder Pudding wäre. Allein die Produzenten von Kinderwurst setzen pro Jahr 70 Millionen Euro mit ihrem grinsenden Aufschnitt um. Die Kinder selbst geben 20 Milliarden Euro Taschengeld im Jahr aus. Für Süßigkeiten und Eis, für Mode, Elektronik und Handygebühren.

Das Internet hat mittlerweile eine weitere Konsumdimension eröffnet. Nicht nur, weil drei von vier Teenagern heute ein Smartphone mit sich herumtragen, oft Hunderte Euro teuer. Sondern vor allem, weil mit den Geräten Zalando und Amazon ebenfalls in der Hosentasche stecken. Auch wenn die Netz-Kinder selbst noch nicht geschäftsfähig sind - so können sie ihren Eltern jederzeit zeigen, was sie wirklich, ganz unbedingt, möglichst bald, dringend haben müssen.

Das monatliche Einkommen reiche in immer mehr Haushalten nicht mal mehr aus, um die laufenden Kosten zu decken, schreibt das Statistische Bundesamt in seiner kürzlich erschienenen Untersuchung "Konsumausgaben von Familien für Kinder". Aber auch Eltern in nicht ganz so prekärer Lage kommen schnell an ihre Grenzen, vor allem alleinerziehende. 16 Euro je Kind müssen da für Bücher und Schreibwaren reichen und schmale vier Euro im Monat für Nachhilfe, rein rechnerisch natürlich. Derweil fahren die Besserbetuchten ihre Kleinen in die zweisprachige Kita und zum Geigenunterricht.

So bleiben die, deren Eltern weniger Zeit und Geld haben, leicht auf der Strecke: Kinder aus ärmeren Familien haben in Deutschland besonders schlechte Aufstiegschancen. Doch egal, ob wohlhabend oder nicht: "Der Druck, nur keine Chance auszulassen, da sie sonst ihrer heutigen Elternpflicht, das Kind optimal zu fördern, nicht gerecht werden, scheint allgegenwärtig", schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung. Wer in dieser Welt bestehen will, denken Eltern, muss nicht nur haben, sondern auch wissen.


Ja, Kinder brauchen Bildung. Möglichst früh und möglichst gut. Doch statt nach individuellen Förderkursen für Einzelne Ausschau halten, wäre allen Kindern in Deutschland mit flächendeckender Frühförderung mehr geholfen. Ludger Wößmann, Vater von drei Kindern und zurzeit Bildungsökonom im US-amerikanischen Stanford, übt Systemkritik: "Jeder Euro, den wir in Kitas und Kindergärten stecken, führt zu mehr Chancengleichheit und zu mehr Wohlstand für alle. Im Moment fließt dorthin aber am wenigsten Geld. Sehr viel allerdings geht an die Hochschulen, wo vor allem diejenigen profitieren, die sowieso privilegiert sind. Wenn Sie mich fragen, was Kinder wirklich brauchen, dann dies: dass wir die Bildungsinvestitionen zugunsten der ganz Kleinen umverteilen."

Wie viel Haben wollen Kinder haben? Was brauchen sie wirklich von uns?

Aus Befragungen geht hervor, dass es Kindern und Jugendlichen ganz stark um Anerkennung geht. Sie wollen nicht wahrgenommen werden wie jemand, den man nicht für voll nimmt, an den man vor allem Forderungen stellt und den man einfach verplant. Magst du lieber Judo oder Blockflöte? Nichts davon? Ist keine Option. Kinder spüren sehr wohl, dass bei all der Aufmerksamkeit und materiellen Zuwendung etwas fehlt.

Freiheit. Freiheit von Ansprüchen, aber auch räumliche Freiheit spielt eine ganz große Rolle. Kinder und Jugendliche suchen Rückzugsmöglichkeiten aus der Welt der Erwachsenen. Doch die elternfreien Zonen werden immer kleiner - manches Kind ist nur noch in seinem eigenen Zimmer wirklich unbeaufsichtigt. Vor 40 Jahren gingen mehr als 90 Prozent der Grundschüler allein oder mit Freunden zur Schule. Heute tut das nur noch die Hälfte. Auch deshalb ziehen sich Kinder in die sozialen Netzwerke im Internet zurück. Da sind sie endlich ungestört. Autonomie ist heute eine besonders große Entwicklungsaufgabe, weil Eltern in nahezu allen Lebensbereichen der Kinder dabei sein wollen.

Psychologen bestätigen, dass Kinder die wichtigsten Entwicklungsaufgaben - mit eigenen Gefühlen klarkommen, sozial kompetent sein, kreativ Probleme lösen - nur erlernen, wenn sie Gelegenheit haben, sich zu bewähren. Schon Kleinkinder schaffen den ersten Schritt nur aus eigenem Antrieb und nur, wenn sie vorher hundertmal hinfallen durften. Und Zehnjährige sind erst dann richtig stolz auf ihren Sieg beim Schach, wenn sie sicher sind, dass Opa sie nicht hat gewinnen lassen.

"Kinder brauchen authentische Beziehungen. So gestärkt, können sie sich an Widerständen messen und die Welt erforschen", sagt Herbert Renz-Polster, Vater von vier Kindern, außerdem Kinderpsychologe und Autor des gerade erschienenen Buchs "Die Kindheit ist unantastbar. Warum Eltern ihr Recht auf Erziehung zurückfordern müssen".

Die große Aufgabe von Müttern und Vätern ist es, den Überblick zu bewahren und zu prüfen: Was kommt von draußen, was wollen wir herein lassen? Damit für die Kinder drinnen genug freie Zeit und freier Raum bleiben, um zu wachsen und selber ein Gespür dafür zu entwickeln, was sie können, wissen und haben wollen und wer sie wirklich sein möchten.

Mit Informationen aus Stern.de