Drama im Treppenhaus - ein Erlebnisbericht aus der Schwangerenberatung
Wahrer Erlebnisbericht aus der Beratungsarbeit von Tiqua eV. (Neckargemünd)Schön ist das nicht: statt den 2. Advent zu Hause zu genießen, sitzen wir beide im Auto, unterwegs nach Hannover. Wir bemühen uns jedoch, das nicht zu thematisieren, damit wir uns nicht gegenseitig ins Selbstmitleid treiben.
Nach mühsamer Suche haben wir das Haus gefunden: außen heruntergekommen, die schiere Menge der Klingeln erschlägt uns, das Haus hat einen Namen, den wir hier nicht nennen können. Es ist ein Ausbildungsheim für junge Männer, die in einer großen Firma ausgebildet werden und dort während der Ausbildung wohnen.
Wir sind erstaunt darüber, hier 'unsere' Schwangere finden zu sollen, aber Hausnummer und -Name lassen keinen Zweifel, dass wir richtig sind. Trotzdem finden wir den gesuchten Namen des jungen Mannes nicht, also halten wir in Schnee und Eis durch, bis jemand von innen die Tür öffnet – wir fragen nach Jörg (Name geändert), steigen die schmutzigen Treppenstiegen hinauf und fühlen uns dabei wie im falschen Film. Schließlich stehen wir vor der Etagen-Abschlusstür, die derart schmutzig ist, dass sie keinen Vorhang benötigt, um die Privatsphäre zu wahren.
Trotzdem: hier sind die richtigen Namen angebracht, wir klingeln. Und warten - sehr lange. Endlich hören wir ein Schlurfen wie von einem alten Mann und wünschen uns sehnlich, tatsächlich im falschen Film zu sein, damit wir wieder gehen dürfen.
Der Kontrast zu den schlurfenden Füßen könnte nicht krasser sein: mit einem Ruck wird die Tür aufgerissen, in meiner Augenhöhe - höchstens 5 Zentimeter entfernt - sehe ich eine nicht mehr ganz taufrische Gabel, auf der ein Nürnberger Würstchen quer aufgespießt ist. In dicken Tropfen rinnt das Fett an den Verkrustungen hinab, über den Handrücken, je nach Hindernislauf auf den nicht mehr erkennbaren Fußboden oder auf die verschlissenen Socken patschend.... Tropf, tropf....
Die zerlumpte, aber sehr hübsche junge Frau vor mir erschrickt und zieht den ruckartig vorgestreckten Kopf mitsamt der Gabel wieder zurück....Tropf, tropf....„Oh, Sie sind ja schon oben!“, nuschelt sie mit vollem Mund, dreht sich um, lässt die Tür offen und schlurft voran ohne ein weiteres Wort, während sie ab und zu das Fett vergeblich mit der Zunge aufzufangen versucht und gleichzeitig an dem winzigen Würstchen herumknuspert. Ebenso wortlos tappen wir hinter ihr her durch den dunklen Flur - es will uns kein Small-Talk einfallen.
Wenigstens hat die Terminvereinbarung durch die Mutter eines Mitbewohners geklappt, wir werden also wirklich erwartet. Nach gefühlten tausend Windungen stehen wir plötzlich in einem der Apartments: gerade reicht die eine Wandseite für ein zerwühltes, schmutziges Bett, die andere Wandseite wird vollständig von einem überraschend hübschen Kleiderschrank und einem winzigen niedrigen Tischchen mit 2 Sesselchen davor eingenommen; schmutzstarrend das Fenster, dann ist gerade noch Platz für eine weitere Tür: das Badezimmer.
So etwas haben wir noch nie gesehen; wir versuchen, uns gegenseitig zum Gesprächsbeginn zu ermuntern, aber das will und will nicht klappen, als dann Jörg aus dem Badezimmer kommt, uns mit wortlosem Nicken begrüßt und sich auf eines der Sesselchen fallen lässt, das daraufhin bedenklich knirscht.
„Wie alt seid Ihr denn?“ frage ich und komme mir unendlich dumm und deplaziert vor.
„Ich bin in 4 Tagen 18 und Netti ist 17“ antwortet Jörg ohne Zögern, aber auch ohne uns anzuschauen. Wir stehen hölzern herum; ich habe Angst, dass ich das Zimmer sprenge, wenn ich huste oder tief durchatmen muss.
„Seit wann wohnt ihr denn hier?“, fragt Anne, meine Mitarbeiterin (ich bewundere sie sehr, dass ihr das einfiel). „ICH wohne hier“, korrigiert Jörg, „sie“ (lässige Handbewegung) „lebt offiziell gar nicht hier! Das dürfen Sie keinem sagen; wir wollen nur, dass jetzt das schnell gemacht wird mit der Abtreibung, dafür sind Sie doch hergekommen - oder?“
Ich blicke Netti an, die sich nur für das Würstchen und für das Fett interessiert. Tropf, tropf.
Erst als ich mit meinem Blick einem Tropfen folge, sehe ich, dass das Tischen fast vollständig von einer fettigen alten Pfanne eingenommen wird, indem noch mehr Würstchen liegen: Kalt. Mein Magen fängt an zu knurren, obwohl der Anblick unappetitlich ist. Mir wird bewusst, dass Jörg uns mit seiner Feststellung in ein für das Ungeborene gefährliches Fahrwasser gebracht hat und dass hier rings um uns alles so aussieht, als wäre Abtreibung für das Kind womöglich doch das Beste.
Verzweifelt reiße ich meinen Blick von der Pfanne zur tropfenden Gabel hin auf Nettis Gesicht: ich suche etwas, das sie mir liebenswert macht, finde nichts, sie schaut mich nicht mal an. Und dann findet meine Mitarbeiterin einen Anfang: „Wer so wohnt wie ihr, der hat keine Eltern, sehe ich das richtig?!“ Ich hätte sie umarmen können, denn Jörg reißt es aus seinem Sesselchen, er wirft sich auf das Bett, schlägt die Beine übereinander und zischt: „So isses! Unsere Alten gehen uns am A.... vorbei und überhaupt das ganze Leben ist besch....!“
„Du bist hier ja als Auszubildender untergebracht, was fällt Dir denn zur Zeit am schwersten?“ fragt Anne. Jörg schließt die Augen, so dass ich befürchte, er könnte eingeschlafen sein, aber das stimmt nicht, er ist hellwach: „Morgens das Aufstehen: ich will Netti nicht hier alleine lassen, ich habe so eine Scheiß-Angst, dass rauskommt, dass sie da ist und dann kommt sie ins Heim!“
„Warum kommt sie denn ins Heim?“
„Weil ihr besch... Vater geschieden ist und er sie nicht haben will, obwohl er sie bei der Scheidung noch unbedingt haben wollte, dann hat er sie bald ins Heim abgeschoben, da ist Netti abgehauen, die suchen sie jetzt...“
„Wie groß sind denn die Chancen, dass Netti HIER gesucht wird?“
„Weiß nicht“
Netti klaubt sich ein weiteres Würstchen aus der Pfanne, genießt es voll und ganz. Mir dreht sich das Herz um, plötzlich erscheint sie mir sehr verletzlich und klein, trotz der vielen Nasen- und Lippenringe. Es fällt mir schwer, ihre bühnenreife Würstchen-Ess-Vorstellung nicht weiter anzustarren – aber Anne rettet die Situation wieder und fragt:
„Sagt mal: wovon lebt ihr denn dann?!“
„Naja: von meinem Azubi-Gehalt!“
Froh, etwas tun zu können, bitte ich Jörg, aufzustehen und mit uns zusammen auszurechen, wieviel Geld sie denn überhaupt monatlich besitzen. Abzüglich der Miete im Azubi-Heim haben sie dann noch ca. 400,- zu zweit. Das ist knapp, hätte aber noch schlimmer sein können.
„Müssen wir denn die Abtreibung selbst bezahlen?“
„Nein“, sage ich, „die Kosten für die Abtreibung übernimmt Nettis Krankenkasse.
„Das geht aber nicht, dann wissen ja alle, wo sie zu finden ist!“ - Jörg stehen tatsächlich Tränen in den Augen.
Ich frage ihn: „Wann hattest du denn zuletzt Kontakt zu Deinen Eltern?“
„Weiß nicht, schon lange her, meine Alten sind auch geschieden und ich war im gleichen Heim wie Netti. Dann habe ich im September hier den Ausbildungsplatz gekriegt! Netti ist dann plötzlich abends vor der Tür gestanden.“
Das ist hier, so wird uns klar, kein klassischer Fall von Schwangerschaftskonflikt-Beratung, sondern hier sind verwahrloste große Kinder, denen es seelisch richtig dreckig geht und die das auf gar keinen Fall zeigen wollen, vielleicht auch selbst gar nicht bemerkt haben. So machen wir hier alles anders, ganz anders:
„Wie liebt hast du denn Netti?!“, fragt wieder die wunderbare Anne.
Tränen treten ihm in die Augen: „Erst nicht, aber dann habe ich sie immer mehr lieb, habe mich gefreut, wenn ich abends heimkam, dass sie da ist und jetzt haben wir Scheiß-Angst! Wir müssen das so schnell wie möglich alles machen!“
Anne fasst ihn mit der Hand an der Schulter und dreht ihn auf dem Bett wieder zu uns zurück, über sein Gesicht laufen Tränen. Das setzt mich schachmatt.
„Wer von Euren vier Eltern liebt Euch denn noch am ehesten?“
Jörg weint jetzt hemmunglos vor sich hin, aber ohne einen Laut von sich zu geben. Netti hat die Würstchen erledigt, leckt sich jeden einzelnen Finger und sagt:
„Eigentlich gibt’s da nur einen: meinen Vater! Dem habe ich halt das Leben zur Sau gemacht, jede Tussi, die er nach Hause brachte, habe ich fertiggemacht. Das war voll geil, aber dann hat er mich ins Heim gebracht . mit der Polizei! Am Anfang kam er mich noch sonntags besuchen, aber nur ein, zwei Mal, dann ist er weggeblieben.
„Wie lange ist das her?“ Netti rechnet: „5 Jahre fast!“
Wir können es kaum fassen. Solch eine seelische und körperliche Verwahrlosung, solch verbitterte Blicke aus den Augen, so eine Verzweiflung – und so eine gezeigte Coolness. Der totale Absturz durch die morgige Abtreibung ist unausweichlich.
Deshalb folge ich der einzigen Idee, die ich habe und lasse Anne mit den beiden jungen Menschen alleine: „Gib mir mal die Telefonnummer Deines Vaters, wenn Du die noch hast!“ - „Ach so!“, sagt Netti, „stimmt: einer muss ja den Scheiß“ (sie meint die Abtreibung) „bezahlen, was?“ - Sie findet die Nummer nicht, weiß aber noch die Adresse.
Ich gehe vor das Haus, rufe einen befreundeten Polizisten an und bitte ihn, mir zu helfen, die Telefonnummer des Vaters zu finden; nach einer halben Stunde habe ich sie. Es ist Advent und also versuche ich mein Glück - jeder normale Mensch ist heute zu Hause:
„Schulte!“ meldet sich eine Männerstimme und in diesem Moment wird mir bewusst, was ich da tue und wie gefährlich es ist, alles auf die eine Karte zu setzen.
„Wann haben Sie sich denn zum letzten Mal gewünscht, etwas von Netti zu hören?“, frage ich ihn: “ Ich bin gerade bei ihr und es geht ihr nicht gut. Wann haben Sie denn zuletzt an sie gedacht? Erinnern Sie sich daran noch?“
Es ist lange still am anderen Ende und als er spricht, merke ich, dass auch er mit den Tränen kämpft und wiederhole meine Frage. - Zu meiner Freude sagte er: „Es vergeht kein Tag, an dem sie mir nicht fehlt, aber Sie KÖNNEN sich nicht vorstellen, wie furchtbar sie sich benimmt! - Was macht sie denn, wieso geht es ihr nicht gut?!“ - Wir telefonieren ziemlich lange und ich schicke einige Stoßgebete für Anne zum Himmel, während ich erfahre, was los ist. Der Vater ist einfacher Bankangestellter, nach der Scheidung wollte er so gerne seine Tochter bei sich haben. Das ging recht gut, bis sie ca. 12 Jahre alt war, dann war es nur noch „ein einziger täglicher Horror!“
Obwohl ich ihn nicht sehen kann, lege ich wieder eine Karte auf den Tisch: „Wenn Netti dabei ist, wieder etwas Schlimmes zu machen und Sie wären der Einzige, der sie davon abhalten könnte – würden Sie das denn tun?“ - „Ich glaube nicht, dass sie sich von mir was sagen lässt, aber wenn Sie mich um Hilfe rufen, dann werfe ich mich dazwischen!“
Nach ein paar - wie wir sagen - 'Landeschleifen´ lege ich den Abtreibungstermin auf den Tisch: er schnappt hörbar nach Luft und unser Ringen um „richtig“ und „falsch“ dauert verhältnismäßig kurz. Ich erinnere ihn an seine Sehnsucht nach Netti und dass er sich dazwischenwerfen will, wenn es nötig ist. Er hat JETZT eine Chance oder nie mehr.
Schließlich verabreden wir, dass er jetzt am Handy bleibt, ich wieder ins Haus gehe und er verabredungsgemäß seiner Tochter sagt, wie sehr er sie vermißt und dass wir uns alle morgen, statt zur Abtreibung zu gehen, in unserer Beratungstelle „Tiqua“ treffen - auf neutralem Boden. Ich mache ihm klag: er muss es auch schaffen, dass sie den Abtreibungstermin ihm zuliebe verschiebt.
Wieder das schmutzige Treppenhaus, wieder das Klingeln an der Abschlusstür.
Anne steht vor mir und strahlt über das ganze Gesicht: „Du kommst genau richtig, sie will mit uns nach Hause kommen, zu Dir...“ - Wir informieren uns kurz gegenseitig, dann gebe ich Netti das Handy. Der Vater spricht erst mit seiner Tochter und auch kurz mit Jörg, den ich ebenfalls zum morgigen Termin bitte.
Von Anne, die in der Indianersprache sicherlich 'schnelles Gehirn' genannt würde, erfahre ich, wie sie es geschafft hat, dass Netti morgen nicht zur Abtreibung geht: „Das ging am Anfang etwas holperig, aber dann habe ich Jörg klargemacht, dass Netti nach der Abtreibung hier in diesem Bett liegt, es geht ihr nicht gut, dann geht es ihm auch nicht gut, womöglich hat sie Blutungen und bald Alpträume – und er ist hier ganz allein mit dieser großen Sorge. Sein gerade ein paar Wochen altes Familienglück ist dann kaputt, wo er sich doch nicht sehnlicher wünscht, als jemand zu haben, den er lieben kann. Jörg hat ziemlich geweint; das hat Netti zum Weinen gebracht, sie war ganz außer sich darüber und versicherte ihm, dass sie auch gerne eine Familie haben möchte und „eigentlich ja nur wegen der besch...Lage morgen die Abtreibung machen“ wolle. Irgendwann war es auf einmal ganz einfach: wir haben zu dritt im Raum gestanden und uns umarmt. Ich glaube, das hat bei denen schon viele Jahre keiner gemacht, sie haben sich richtig an mich geklammert – und dann habe ich ihnen den Vorschlag gemacht, den morgigen Termin erstmal zu verschieben und mit uns nach Neckargemünd zu Tiqua zu kommen und über alles nochmal zu reden.“
Was nun folgte, war noch ein enormes Arbeitspensum: Netti ist erst einmal bei uns eingezogen; am Montag haben wir ihr schöne Schwangerschaftskleider gekauft (ihre Hose ging gar nicht mehr zu) und dann haben wir ganz „autoritär“ Frieden hergestellt: mit allen; er sieht so aus, dass Netti erst einmal bei uns bleibt, dann im selben Mietshaus ihres Vaters eine kleine Wohnung bezieht, zusammen mit Jörg, so dass das Baby von ihrer neuen Stiefmutter mitversorgt werden kann.
Noch vor Redaktionsschluss haben Netti und Jörg geheiratet. Wir haben einen Zuschuss zur Wohnungseinrichtung gegeben und jemanden im Raum Hannover gefunden, der im Auftrag von Tiqua eV. den Kontakt zu den Beteiligten hält.
(Die Namen der Betroffenen wurden geändert)