Dokumentation: Norbert Blüm konstatiert die Enteignung der Kindheit und die Verstaatlichung der Familie
In der „Zeit“ vom 19. März 2012 konstatiert Norbert Blüm, ehemaliger CDU-Arbeitsminister, in einer längeren Streitschrift mit dem Namen „Freiheit“ eine Enteignung der Kindheit und die Verstaatlichung der Familie.
Wir dokumentieren einige Zitate aus Blüms Streitschrift:
Wissen wird in der Schule gelehrt. Die Schule ist die Kirche der Modernität, die Lehrer sind ihre Priester. Die Liturgie der neuen Religion ist der Unterricht. Die Wissensgesellschaft gilt als Inbegriff des Fortschritts. In der Wissensgesellschaft findet der Mensch scheinbar sein Paradies.
Schule ist die allein selig machende Erlösung aus der Dummheit.
So predigen es uns die Kardinäle der Wissensgesellschaft. Aber: Sie überschätzen die Kraft des Wissens, Probleme zu lösen. Die großen Bedrohungen der Menschheit wie Krieg, Hunger und Umweltzerstörung sind nicht die Folge von Wissensdefiziten, sondern das Ergebnis des Mangels an Moral und gutem Willen. Wissen allein löst keine Probleme.
Das neue schulische Unfehlbarkeitsdogma ist eine Anmaßung, keine Beschreibung der pädagogischen Realität. Das meiste, was ich gelernt habe, habe ich nicht in der Schule gelernt. Reden und Singen, Arbeiten und Spielen, Essen und Trinken, Lieben und Trauern, all das beherrsche ich aufgrund außerschulischen erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten.
Schreiben, Lesen und Rechnen sind dagegen wahrscheinlich stärker schulvermittelt. Obwohl bei Licht betrachtet selbst diese Kenntnisse mehr durch externe Nutzung als durch Schulung trainiert wurden.
Die Praxis ist eben der bevorzugte Schulmeister des Lebens.
So wie mir erging es vermutlich vielen Kindern. Meine erfolgreichsten Lehrer waren Mama und Papa, Oma und Opa, Tanten, Onkel, vor allem aber Freunde, Spielkameraden, Nachbarn und Cliquen. Auf der Straße wurde mir mehr beigebracht als in Klassenräumen, in denen ich – Gott sei Dank – nur Teile meiner Kindheit verbrachte.
Meinen stärksten Lernschub erhielt ich allerdings in der Werkzeugmacher Lehre bei Opel. Durch meine Lehrgesellen, die mir keine Lehrware lieferten, sondern mir das Erlebnis ermöglichten, mit- und nachzumachen, was sie mir vorgemacht hatten. Auch Werkstoffkunde erfuhr ich beim Feilen, Sägen, Bohren, Hobeln, Schmieden nachhaltiger als an den Wandtafeln der Berufsschule.
Ganz anders waren meine schulischen Lernerlebnisse. Ihre Erfolge wurden abgepackt und mit Noten versehen. Freilich, die Theorie war nicht nutz- und sinnlos. Theorie begleitet die Praxis.
Wir knüpfen den Berufszugang weitgehend an benotete Schul- und Hochschulzertifikate. Ein Dampfkesselüberwacher hat möglicherweise in seinem Studium niemals etwas von den komplizierten Druckverhältnissen in komplizierten Dampfkesseln gehört, dafür aber ein Diplom erhalten. Gott sei Dank hat sich die Lebenspraxis Wege gesucht, um das Zugangsmonopol des Diploms zu umgehen.
Lernen durch Erprobung verliert jedoch leicht sein Lehrmaterial in Zeiten, in den sich Produkte schnell abnutzen und Erhaltung durch Wiederherstellung nicht mehr lohnt. Früher war die Reparatur eines defekten Motors auch ein Lernerlebnis für den Autoschlosser. Heute wechselt er die Ersatzteile aus, die ihm ein Elektrogerät als defekt meldet, und ist vor allem Monteur.
„Ist es aber nötig und möglich, dass ein Kind alles lernt, was ein Erwachsener wissen muss“, fragte schon vor mehr als zwei Jahrhunderten der Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau. Die Aussichtslosigkeit eines solchen Versuchs hat sich verschärft.
In einer Gesellschaft, in der Wissen schnell veraltet, wirkt das Vorhaben, alles Wissen, das zukünftig gebraucht wird, in die kleinen Köpfe der Kinder zu trichtern, wie der Versuch, Eis auf Vorrat in der Sahara zu lagern.