Buchbesprechung: Abby Johnson: Lebenslinie. Warum ich keine Abtreibungsklinik mehr leite
Mathias von GersdorffAnfang 2012 ist in deutscher Übersetzung das Buch von Abby Johnson, ehemalige Chefin einer Abtreibungsklinik erschienen. Johnson hatte schon acht Jahre mit Überzeugung eine Abtreibungsklinik geleitet und kündigte, nachdem sie eine Abtreibung im Ultraschallgerät sah. Einige Zeit später wurde sie Aktivistin in der US-Amerikanischen Pro-Life Bewegung. Ihr Fall erzeugte großes Aufsehen in der US-Amerikanischen Öffentlichkeit.
Ihr Erinnerungsbuch „Lebenslinie“ ist ein erschütternder und aufwühlender Bericht.

Abby Johnson war nicht irgendeine Leiterin einer Abtreibungsklinik. Nein, sie war eine bekannte Abtreibungsaktivistin, die gegenüber Presse und Politiker professionell die Abtreibungslobby vertrat. Sie war rhetorisch versiert und wirkte überzeugend. Teil ihrer Arbeit war, Lebensrechtler zu konfrontieren, vor allem die, die sich gegenüber ihrer Klinik postiertem um zu beten. Sie gehörten der Organisation „Coalition for Life“ an. Sie kannte alle durch Diskussionen persönlich und beim Namen. Nicht selten hatte sie sie ausgeschimpft, weil eine „Klientin“ der Abtreibungsklinik von den Lebensrechtlern auf der Straße verunsichert wurde und verstört die Klinik betreten hatte. Die Lebensrechtler von „Coalition for Life“ durften nur jenseits eines Zauns verweilen und mussten somit einen gewissen Abstand zur Klinik und eben zu den „Klientinnen“ halten. Johnson schreibt immer wieder in ihrem Buch von den beiden Seiten des Zauns.
Nachdem Abby Johnson die Ultraschallaufnahmen gesehen hatte, wurde ihr schnell klar, dass sie nicht mehr in der Klinik arbeiten konnte und begann eine neue Arbeit zu suchen. Diese war für den materiellen Wohlstand ihrer Familie – Ihr und ihre Tochter – unverzichtbar. Johnson wollte den Übergang in eine andere Arbeit geordnet und möglichst risikolos gestalten. Doch das ging nicht. Das Erlebnis der Abtreibung begann in ihrem Inneren zu wirken und sie immer mehr aufzuwühlen. Dies geschah in wenigen Tagen, ihre ganze Welt begann auseinanderzubrechen und sie stellte nicht nur ihr eigenes Leben, sondern das ganze Abtreibungssystem in Frage. Es war wie ein Blinder, der plötzlich sehen kann.
Abby Jonhson hatte selber zwei eigene Kinder abgetrieben. Die Tatsache, dass ihr das emotional nichts bedeutete, empfand sie als furchterregend: „Die Tatsache, dass ich in Bezug auf meine eigenen Abtreibungen immer noch nicht das geringste fühlte, nicht einmal, als ich bei einer Abtreibung zusah, machte mir Angst. Da lief etwas falsch, wie eine dicke Schale, die um die Erinnerung an diese Ereignisse herum war und nicht durchdrungen werden konnte, die einfach tief in meiner Seele saß wie ein Anker. Was läuft falsch in mir?“
Ein paar Tage danach explodierte diese Schale. Sie saß im Büro der Klinik, als sie die Emotionen, die die Ultraschallaufnahme ausgelöst hatten, nicht mehr zurückdrängen konnte. Sie verließ Hals über Kopf die Klinik und in ihrer Verzweiflung wurde sie hysterisch. Der einzige Ort, der ihr einfiel, wohin sie gehen könnte, war just das Büro ihrer einstigen „Feinde“, die Leute von „Coalition for Life“: „Mit erstickter Stimme schrie ich hysterisch in den Apparat; „Hier ist Abby Johnson von Planned Parenthood!“ Sie musste sich fragen, was um alles in der Welt da vor sich ging, weil ich so weinte, dass ich nicht sprechen konnte.“ Die Lebensrechtler waren natürlich verblüfft und erschrocken und fürchteten das Schlimmste, nachdem sie in all den Jahren sie immer wieder ausgeschimpft hatte. Schließlich im Büro, brach der aufgestaute Schmerz aus sie heraus: „Tief in mir war ein Damm gebrochen, und deine Flut aus Schuld, Kummer, Schmerz, Reue, Scham, Geheimnis und Angst ergoss sich mit jedem Schluchzer aus mir heraus. Es war ein schrecklicher, wunderbarer, furchterregender, reinigender Schwall aus blanker Emotion. . . . Die Geschichte brach hervor wie eine Flut. Ein paar Minuten stammelte ich einfach so weiter. . . . während ich alle angestauten Gedanken und Gefühle ausstieß, die seit Jahren in mir gebrodelt hatten, in den letzten Monaten immer stärker geworden und letzte Woche einfach explodiert waren.“
Abby Johnson kündigte wenige Tage danach ihre Arbeitsstelle und wurde in „Coalition for Life“ aktiv. Doch sie kam nicht zur Ruhe. Ihr Fall wurde kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert und sie erhielt viele Anfragen für Interviews. Der Sturm ging aber erst richtig los, als die Abtreibungsklinik von „Planned Parenthood“ gerichtlich aufgrund von Datenschutzverletzung und anderen weiteren Anklagepunkten gegen sie vorging. Doch das Urteil fiel zu ihren Gunsten aus.
Johnsons Buch berichtet nicht nur über die atemberaubende Entwicklung von einer Abtreibungsaktivistin zu einer Lebensrechtlerin, sondern gibt auch viele Einsichten, über die Abtreibungsmaschinerie und über die Mentalität der Menschen, die darin arbeiten. Viele von ihnen ließen sich – so Abby Johnson – tatsächlich verführen, für die Abtreibungslobby zu arbeiten und dachten dabei, sie würden etwas Gutes für die Frauen tun. Wahrscheinlich nur eine Schockerfahrung in der Art, wie sie Abby Johnson erlebt hat, kann diese Menschen aus der Finsternis der „Kultur des Todes“ entreißen.
Es wäre wünschenswert, wenn viele andere Ärzte und sonstige Angestellte von Abtreibungseinrichtungen ihre Erlebnisse einer breiteren Öffentlichkeit mitteilen würden, wie das Abby Johnson getan hat. Sicherlich würden solche Zeugnisse das Leben vieler Babys retten.
Abby Johnson: Lebenslinie. Warum ich keine Abtreibungsklinik mehr leite. Augsburg 2012 (Original Englisch 2010) (Sankt Ulrich) 19,95 Euro