Am 14. Mai 2012 wäre Karin Struck 65 Jahre alt geworden
Mathias von Gersdorff
Leider
habe ich mich nie mit Karin Struck persönlich unterhalten, ich habe sie nur in
Veranstaltungen gesehen, wenn sie auf dem Podium gesprochen hat. Am Anfang
meiner Zeit als Lebensrechtler besuchte ich auch wenig Kongresse und sonstige
Treffen von Lebensrechtsgruppen, dies begann ich erst später zu tun, und
deshalb habe ich manche der Koryphäen der „Szene“, die Anfang der 1990er Jahre aufgrund
der neue aufgekeimten Debatte um den § 218 StGB sehr aktiv waren, wenig
persönlich kennengelernt. Einige von ihnen waren von der „ersten Stunde“ mit
dabei, und ihre persönlichen Biografien vermischen sich geradezu mit der
Geschichte der Abtreibung und des Widerstandes dagegen in Deutschland.
Auch,
wenn man diese Menschen wenig persönlich kennengelernt hat: Aus einer gewissen
zeitlichen Distanz kann man vielleicht besser die Bedeutung dieser Menschen
erfassen, die sie nicht nur in ihrer, sondern auch in unserer Zeit haben.
Etwas
ausführlicher möchte ich mich hier mit dem Leben und vor allem mit dem Werk der
Schriftstellerin Karin Struck beschäftigen.
Die
linke Presse warf ihr vor, einen „neurotischen Kreuzzug gegen die Abtreibung“
durchzuführen. In der Tat war sie kein Mensch für halbe Sachen. Sie setzte sich
mit ihrer ganzen Person für das Lebensrecht der Ungeborenen ein und scheute
keine Polemik und keine Skandale. Geboren 1947, fing sie mit 17 Jahren an, zu
schreiben, wie sie selbst in ihrem Anti-Abtreibungsbuch „Ich sehe mein Kind im
Traum“ schreibt. Sie war Mitglied im „Sozialistischen Deutschen Studentenbund
(SDSB)“, Feministin, Autorin der linken Frauenliteratur Anfang der 1970er
Jahre, publizierte im Suhrkamp-Verlag und landete mit dem Roman „Klassenliebe“
ihren ersten Erfolg. In einem Nachruf (sie starb 2006) schrieb die
linksalternative „taz“ am 9. Februar 2006: „In den 70er-Jahren macht Struck als
mitteilungswütiges, feministisches Fräuleinwunder der deutschen Literatur
Furore, das sich auch mal nackt ablichten lässt. In ihrem Debüt „Klassenliebe“
thematisiert sie ihre Herkunft, ihre Zeit als Fabrikarbeiterin und als Geliebte
eines Intellektuellen. Das Buch zählt zu den zentralen Werken der „Neuen
Subjektivität“. Vor allem Schriftstellerinnen gehen in jener Zeit mit der bis
dahin literarisch kaum wahrgenommenen weiblichen Lebenswelt an die
Öffentlichkeit.“
Eine
Abtreibung Mitte der 1970er Jahre begann sie innerlich zu verändern. Abtreibung
und das Trauma danach werden immer wieder Thema in ihren Romanen. In ihren
Schriften fühlt man, wie sie permanent die passende Sprache sucht, diese
Tragödie zu begreifen und darzustellen. Sie versteht sich gleichzeitig als
Täterin und als Opfer, Opfer einer „Abtreibungsgesellschaft“, die sie zur
Tötung ihres eigenen Kindes verführt hat. So wird sie zur rabiaten
Abtreibungsgegnerin. Und das nach ihrer, mit sich selbst kompromisslosen Art.
Sie will sich nicht damit abfinden, dass man in Medien und Politik ständig
bemüht ist, das Thema abzuwürgen. Sie sucht die Polemik und die scharfe
Auseinandersetzung, wie das in früheren Jahren auch der SDSB getan hat und mied
nicht den Skandal. Ihre Empörung über die „Abtreibungsgesellschaft“ war
manchmal so groß, dass sie in der Öffentlichkeit ausrastete.
Bei
den Lebensrechtlern ist sie vor allem mit ihrem Buch „Ich sehe mein Kind im
Traum“ bekannt geworden. Ein äußerst aus der persönlichen Perspektive
geschriebenes Sachbuch. Dort schreibt sie: „Ich musste und muss bei diesem Buch
direkter Farbe bekennen, den Fakten, aber auch den Emotionen, den eigenen und
denen anderer Menschen, direkter ins Auge sehen. So manches Mal wäre ich in den
letzten Monaten und Wochen gern vor meinem Stoff geflüchtet.“ Insofern ist das
Sachbuch „Ich sehe mein Kind im Traum“ mit derselben persönlichen Teilnahme
geschrieben wie ihre Romane. Der DTV-Atlas „Deutsche Literatur“ ordnet sie in
die „Neue Innerlichkeit“ (manchmal auch „Neue Subjektivität“ genannt) ein. In
dieser Literaturrichtung werden das Persönliche, die Gefühle und die inneren
Krisen als Spiegelbild gesellschaftlicher Phänomene und Entwicklung interpretiert.
Das Private wird ständig nach außen gekehrt, man weigert sich, eine Unterscheidung
zwischen privat und öffentlich vorzunehmen, das eigene Leben wird als Politikum
aufgefasst. Karin Struck prägte diese Stilrichtung wie keine andere. Manche
mögen diesen Stil als aufdringlich und schreierisch auffassen. Eines steht
jedoch fest: Karin Struck, zudem noch mit ihrer 68er-Vergangenheit, würde sich
in ihrem Einsatz für das Lebensrecht der ungeborenen Kinder (das Substantiv
Ungeborene hielt sie für unangebracht) nicht an Konventionen oder Regeln halten.
Ihr
Leben und ihr Werk sind ein Dokument der Abtreibungsdebatte in Deutschland,
eine Debatte, die – gerade, weil es um Leben und Tod geht - nicht geradlinig
und geordnet, sachlich und gesittet ablief. In ihrem Inneren spürte wohl Karin
Struck Ohnmacht und Verzweiflung, weil sie ihre eigene Abtreibung nicht
ungeschehen lassen konnte, aber auch, weil sie in einer Welt lebte, die massenhaft
Kinder tötete. Diese Welt führte Tag für Tag ein Massaker durch, war also in
einem völligen Chaos abgestürzt, aber die Leute taten so, als ob nichts wäre, als
ob sie nicht in einer chaotischen, selbstzerstörerischen Gesellschaft leben
würden, sondern in einer normalen. Karin Struck schien permanent nach der
geeigneten Sprache und Kommunikationsform zu suchen, die Menschen auf diese
Situation aufmerksam zu machen. Damit machte sie sich nicht nur Freunde. Der
„Spiegel“ vom 13. Februar 2006 schildert im Nachruf in makabrer Kürze ihre
Verbannung aus dem Kulturbetrieb: „“Klassenliebe“ (1973) war nicht nur der
Titel ihres autobiografischen Erstlings, sondern geschickt gewähltes, dem
linken Zeitgeist zusprechendes Programm. Das Arbeitermädchen (eigentlich eine
Bauerntochter), das unter die Literaten gefallen war und als rothaarige
Attraktion fesselte, war der Liebling einer Saison. Heinrich Böll und Peter
Handke schrieben über sie, Zeitungen (auch der SPIEGEL) veröffentlichten ihre -
mitunter höchst originellen - Beiträge. Doch als sie gegen Abtreibung wetterte,
später zum Katholizismus konvertierte und ihre Bücher ("Blaubarts
Schatten") literarische Kraft mehr und mehr vermissen ließen, zeigte der
Betrieb der vierfachen Mutter die kalte Schulter. Ihr Leben selbst war wie ein
traurig-verzweifelter Roman aus der alten Bundesrepublik.“ Die „taz“ in ihrem
Nachruf: „Struck war eine Radikale. In jeder Hinsicht. Kompromisse hat sie
nicht gemacht. Was sie tat, tat sie verbissen. Das machte sie am Ende zu
niemandes Verbündeter.“
Als
erster Einstieg empfiehlt sich der Aufsatz „Ich will nicht mehr schweigen – Zur
Diskussion um die Abtreibung im vereinigten Deutschland“, erschienen im Buch
„Herausforderung Schwangerschaftsabbruch“ im Jahr 1992. Sie beginnt mit einer
geharnischten Kritik an Alice Schwarzer. Kurz zuvor hatte diese gesagt:
„Schwangere erinnerten sie an Kriegsversehrte.“ Außerdem hatte die Feministin Schwarzer
alle, die gegen die Fristenlösung seien, als „ganz dumm“ beschimpft. Struck
ärgert sich in ihrem Aufsatz über die „selbsternannte Päpstin der Emanzipation“
und über die Tatsache, dass „niemand (es) wagt, ihren Anspruch, für „die“
Frauen zu sprechen, in Frage zu stellen. Jedermann hat Angst vor dem Fallbeil
ihrer Beurteilung „frauenfeindlich“. Besonders empörte sich Struck über
typische Äußerungen Schwarzers, wie etwa „Indikation ist Zwang zur
Mutterschaft“ oder Zwangsberatung. Struck spricht über den „Virus des
Abtreibungswahns“, der sie „infiziert“ hat. Sie klagt die Abtreibungslobby der
Mitschuld an der Abtreibung ihres Kindes an und dass sie nach der
Veröffentlichung ihres Romans „psychisch zur Strecke gebracht“ wurde. Karin
Struck: „Wer Abtreibung nicht als emanzipative Befreiung, sondern als Trauma
beschrieb, musste in seiner Wirkung auf der Öffentlichkeit ausradiert werden.“
Wütend ist sie, dass im Zuge der neu entflammten Abtreibungsdiskussion nach der
Wiedervereinigung Alice Schwarzer, „die Demagogin gegen das Leben Ungeborener“,
wieder „betet“. Struck dazu: „Und ich ertrage es nicht mehr – weder physisch
noch psychisch, noch geistig. Und ich kann nicht länger schweigen.“
Karin
Struck attackiert das Hauptargument des Feminismus – die Frau als Opfer eines
Patriarchats – und versucht, sozusagen den Spieß umzudrehen: „Nicht das
Strafrecht „bevormundet“ Frauen, wie Schwarzer meint, sondern von der
Abtreibungslobby geht heute der Druck aus. Sie nutzt zielstrebig für ihre
Propaganda die oftmals von Unsicherheit oder sogar Panik geprägte erste Phase
der Schwangerschaft.“
Interessant,
dass sie damals etwas schrieb, was heute dank dem enormen Fortschritt der
Neurobiologie wissenschaftlich erwiesen und beobachtet wurde, und zwar die
Existenz der Beziehung zwischen Mutter und Kind vor der Geburt: „Sowohl zu
Anfang der Schwangerschaft als auch noch im Laufe der neun Monate müssen Frau
und Kind kommunikativ zueinander finden, nicht viel anders als nach der Geburt.“
Als fatal beschreibt sie den Sieg der Abtreibungslobby, in der Öffentlichen
Meinung die Perspektive der Abtreibung generell bei einer Schwangerschaft zu
verankern: „Der feministische Ohrwurm Mein Bauch gehört mir hat längst seine
Wirkung getan, und man kann heute kaum ein Kind bekommen, ohne von Befugten
oder Unbefugten automatisch und stereotyp mit Bemerkungen wie „Du behältst
es?“, „Willst die nicht abtreiben?“, „Treib es doch ab“, „Du hast doch schon
zwei (oder drei oder vier) Kinder“, bombardiert zu werden.“ Und später: Junge
Mädchen „setzen selbstverständlich voraus, dass es eine „Entscheidungsfreiheit“
gibt, „das Kind zu kriegen oder nicht zu kriegen“.“
Immer
wieder kommt sie auf Alice Schwarzer zurück. Für Simone de Beauvoir hatte sie
noch etwas Mitleid, weil sie massiv zu einer Abtreibung durch Sartre gedrängt
wurde, was ihr Denken entscheidend beeinflussen sollte. Doch „ihre deutsche
Ziehtochter (machte) aus der unglücklichen These über Ehe und Kind eine mehr
und mehr ins Destruktive abgleitende „flächendeckende“ Ideologie, die für alle
und „die“ Frauen verbindlich sein sollte.“
Im
Aufsatz benutzt sie nicht die expressionistische Sprache ihrer Romane, doch
auch hier finden sich Sätze wie: „Die Abtreibungslobby arbeitet mit alten
Ängsten, erhebt ihr „Feldgeschrei“ über die „verblutenden Frauen“.“ Oder: „Die
infamste Demagogie des Feminismus . . . ist es, den Frauen scheinbar einfühlsam
und verständnisvoll zu versichern, sie seien schließlich keine
„Gebärmaschinen“, ihre Kinder kein „Kanonenfutter“ und keine Frau dürfe zum
Gebären gezwungen werden.“
Sie
ruft den Appell aus: „Gebieten wir der Bewusstseinsverrohung Einhalt! Der
lässige Umgang mit der Abtreibung hat die Menschen abgestumpft“, und
kritisiert: „Man lässt junge Mädchen und man lässt Frauen allein. Man lässt sie
allein wie Selbstmordgefährdete oder Drogensüchtige oder psychisch Kranke.“
Für
viele Zeitgenossen brach sie Tabus, wenn sie solche Sätze schrieb: Würde „ich
als „kleiner Prinz“ diesen Planeten besuchen, müsste ich nicht fragen: „Ihr,
ihr Menschen sprecht von KZs´ für Legehennen, aber was tut ihr mit euren
Ungeborenen? Die doppelte Zunge, ja, die doppelte Zunge. Das ist es.“
In
den Romanen von Karin Struck geht es um Mutterschaft und Kinder, und in
mehreren wird auch Abtreibung thematisiert. Im Roman „Blaubarts Schatten“ ist
Abtreibung das Hauptthema und wird sowohl als gesellschaftliches Phänomen wie
auch aus der subjektiven Perspektive der Frau, die zum Eingriff verführt wurde,
behandelt. Karin Struck schreibt: „Heute ist Abtreibung Krieg. Krieg gegen das
Kind, Krieg gegen den Mann, Krieg gegen sich selbst. Es ist, als ob der Mensch
nicht friedlich leben kann. Manche Frauen frohlocken, dass sie nicht friedlich
sind. Ihre Kriegsfähigkeit macht sie den Männern gleich. Das ist, was sie
wollen: den Männern gleich sein. Ohne Kinder sind sie den Männern gleich. Sie
müssen die Kinder töten, um den Männern gleich zu sein.“
Über
die Befindlichkeit der Frau nach einer Abtreibung schreibt sie: „Man gerät in
eine Todesatmosphäre. Nach einer Abtreibung beginnt ein innerer Abstieg. Es ist
ein Abdriften in die Unterwelt. Ich sage das den Politikern, die, genüsslich
ihre Pfeife schmauchend, verkünden, dass Abtreibung die private
Gewissensentscheidung der einzelnen Frau sei. Ich warne Frauen, sich auf diese
Art Honig ums Maul schmieren zu lassen. Die Politiker wälzen mit ihren hübschen
Worten nur die Sorge für Kinder ab auf ein von ihnen nicht näher definiertes
Gewissen. Ich bin allein, wenn ich ein Kind bekomme, und ich bin allein mit
meiner Schuld, wenn ich es abmurkse. Die Politiker helfen mir nicht danach.
Wenn die Gewissensentscheidung privat ist, ist auch das Leiden nach der
Gewissensentscheidung privat, ist auch das Verrücktwerden privat.“
Diese
beiden Stellen, die man eher in einem Sachbuch und nicht in einem Roman
vermuten würde, sind nicht charakteristisch für den gesamten Text. Abtreibung
ist normalerweise in der Romanhandlung eingebettet.
Karin
Struck macht in ihrem Roman immer wieder auf die Frau als Opfer aufmerksam: „Die
Frau ist wie ein Schaf, das brav auf die Schlachtbank marschiert“. Sie hat die
Abtreibung nicht gewollt. Sie ist dazu getrieben worden.“ Die Frau als Opfer,
die Frau als Teilchen eines unpersönlichen und unmenschlichen Systems, das die
Frau von ihrer eigenen Natur entfremdet: „Damals begriff sie, dass die
Fähigkeit der Frau, handfestes, leibhaftes, leibliches Leben zu schaffen, mit
einer Ideologie wie der des Sozialismus unvereinbar ist, im Grunde mit jeder
Ideologie.“ In diesem System ist auch das Kind eine Nicht-Person: „Ich bin
unerwünscht. Ich muss mich unscheinbar machen, ich mache mich klein und
unsichtbar, damit ich nicht auffalle. Ich möchte mich wehren, aber ich kann
nicht. Ich bin zu klein. Ich würde am liebsten schon laufen und sprechen
können. Ich möchte ihnen sagen, dass sie mich weggeben sollen an jemand, der
etwas von Kindern versteht; dass sie nie wieder Kinder kriegen sollen. Aber ich
kann nicht sprechen.“
„Blaubarts
Schatten“ ist keine leichte Lektüre, und auch die ständigen Perspektivwechsel
erleichtern nicht gerade das Verständnis. Dennoch ist es gewinnbringend, sich
mit ihm zu beschäftigen. Er atmet die Stimmung der Lebensrechtsbewegung, die
noch in direkter Auseinandersetzung mit den Lügen, Verdrehungen und
Meinungsmanipulationen der Feministinnen à la Alice Schwarzer und der neu
entfachten Debatte nach der Wiedervereinigung gestanden hat. Die militanten
Abtreibungsbefürworter zeigten damals eine Entschlossenheit und eine Verachtung
der Mutter und des Lebensrechts des ungeborenen Kindes, die wahrlich
erschreckend, ja, geradezu apokalyptisch waren. Karin Strucks Roman „Blaubarts
Schatten“ ist ein literarisches Dokument dieser Stimmung.